Kerzenschein bei glutrotem Himmel

Heiligabend zur sechsten Kriegsweihnacht anno 1944. - Deutschland lag im Sterben. Abwehrschlachten an allen Fronten. Schon längst war die Rote Armee weit vorgestoßen, und der Tod hielt reiche Ernte. Hier in dem kleinen Nimsdorf Bickendorf hatten wir als Flüchtlinge, direkt aus dem Grenzgebiet am Westwall evakuiert, seit dem 10. Oktober eine doch recht ordentliche Bleibe gefunden. Im Dorf lagen unter anderem eine Werkstattkompanie der Panzer-Lehrdivision und eine Veterinärkompanie. In dieser Kompanie gab es einen auffallend hohen Prozentsatz russischer Kriegsfreiwilliger. Die Sorge ging unter den hier stationierten Soldaten um. Vor wenigen Tagen war wieder der so genannte Heldenklau unterwegs. Alle Kompanien hatten unverzüglich Soldaten abzustellen für so genannte Kampfgruppen und Alarmeinheiten an der Front. Es hatte sich herumgesprochen: Die am 16. Dezember begonnene Ardennen-Offensive galt schon jetzt als gescheitert. Der Himmel klarte auf, als in der Nacht vom 22. auf den 23. Dezember ein russisches Hoch eisige Kälte heranführte. Nun waren sie erst recht die Herren der Lüfte, die amerikanischen Jaboss (Jagdbomer, Anm. d. Red. ). Sie machten Jagd auf alles, was sich vorwärts oder rückwärts auf den Straßen bewegte. Besonders die lange Gerade der Nachschubstraße bei Staffelstein war ein tägliches Zielgebiet. Zwar gelangen den wenigen deutschen leichten Flak-Batterien einige Abschüsse von Tieffliegern. Hoch am eiskalten und klaren Dezemberhimmel flogen jetzt auch schon am Tage riesige Bomberverbände der Alliierten mit ihrer tödlichen Bombenlast in Richtung deutscher Städte. In dieser Höhe konnte ihnen auch die schwere 8,8 Flak nichts anhaben. Nachdem Trier am 21. und 23. Dezember schwere Fliegerangriffe erlitt, traf es jetzt an Heiligabend die Eifel ebenso tödlich: Nach späteren Statistiken flogen 1400 Bomber und 736 Jäger über 5000 Einsätze. Prüm, Gerolstein, Wittlich, Daun, Neuerburg und Bitburg waren die Ziele. An diesem Schreckenstage hatten wir doch vor, einen bescheidenen und stillen Heiligabend zu feiern mit dem Wunsch nach Frieden. Ein benachbarter Junge schenkte mir vom Bienenhaus seines Onkels einen kleinen Klumpen goldgelbes Bienenwachs, woraus mir nach mehrmaligen Versuchen ein hübscher Kerzenguss gelungen war. Auf den Fluren hatte ich Staniolstreifen gesammelt. Die Amerikaner hatten diese in Massen abgeworfen, um den deutschen Funkverkehr mit Meldungen über einfliegende Bomberverbände zu stören. Ich hatte die Streifen eingeweicht, um die Papierfolie abzuziehen, wobei man sich die Fingerkuppen zerschnitt. Dieses Kriegszeug sollte Lametta ersetzen."Die Gebete und Gesänge waren inbrünstiger als sonst, man sang vom Frieden auf Erden"...

Es mochte um die Mittagsstunde sein, als Passanten vor unserer Haustüre erzählten, in Fließem könnte man Brot kaufen. Es waren immerhin zwölf Kilometer. Wie gerufen erhielt ein junger Soldat der Panzer-Lehrdivision direkt im Nachbarhaus den Befehl, in Fließem Ersatzteile abzuholen. Auf meine Bitte um Mitnahme zögerte er keine Minute: es sei zwar verboten, aber es ging. Meine Schwester und meine Mutter riefen uns noch Warnungen zu, nur ja auf Tiefflieger zu achten. Auf der Strecke nach Nattenheim suchten wir schon nach zehn Minuten Schutz unter einem großem Baum vor Tieffliegern. Auf Umwegen erreichten wir Fließem und fragten uns durch. Unser Fahrer fuhr dem taktischen Zeichen seiner Einheit nach und hielt an einer großen Scheune. Er versprach mir, zu warten. Es war wohl auch besser, mit der Rückfahrt auf die einbrechende Dunkelheit zu warten. Tatsächlich fand ich den Bäcker und erhaschte sogar zwei kleine Brote. Nach unserer Rückfahrt wollte ich doch noch zur Christmette an Heiligabend. Das Gotteshaus war voller Menschen, darunter auch viele Soldaten. Die Gebete und Gesänge waren wohl inbrünstiger als sonst, man sang vom Frieden auf Erden... Auf dem Heimweg fragte mich der alte Junggeselle Dionisius, ob ich der Flüchtlingsjunge sei. Er zog mich am Ärmel und gab mir eine Büchse mit Apfelmus. Der so fromme Mann hatte seine Habe den Marienschwestern von Schönstadt vererbt. Fromm war er und immer erkennbar an einem Tropfen an der Nase. Ich bedankte mich, lief über die vom Mondschein erleuchtete, glatte Straße heim. Für Vater, wo mochte er sein, hatte ich gebetet. Mutter hatte aus bescheidenen und gesammelten Zutaten doch recht schöne Lebkuchenplätzchen zustande gebracht. In einem kurzen Zeitabstand traten zwei Soldaten bei uns ein. Die Stube war spärlich erleuchtet mit einem kleinen Öllämpchen. Der eine Soldat war Spieß der Veterinärkompanie und hieß Gerd Held, der andere, ein Gefreiter der Panzersoldaten, war aus Hamburg und hieß Helmut Maushake. Beide hatten in ihrem Brotbeutel ein paar Drops, Kunsthonig, ein paar Zigaretten. Sie hatten zu Weihnachten etwas Marketenderware erhalten, auch Rotwein. Endlich durfte ich meine selbstgegossene Kerze anzünden. Das begonnene Weihnachtslied erstickte. Das Halbdunkel in unserer Stube war wohl eine Erleichterung, dass jeder seine Tränen verbergen konnte. Wir zogen den Verdunkelungsvorhang zur Seite und schauten nach Osten, wo sich das Glutrot des sterbenden Bitburg am Himmel widerspiegelte. "Die armen Menschen...", sagte einer der Soldaten. Und wieder war es im Anflug unüberhörbar, das Motorengeräusch der Bomber. Eine schreckliche Apokalypse, auch jetzt in dieser heiligen Nacht... Paul Colljung wurde am 8. März 1931 geboren und lebt seit seiner Kindheit in Bollendorf.

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