Narben, vor allem an der Seele

GEROLSTEIN/DREIS. (red) Kriegsende vor 60 Jahren: Erneut erinnern sich heute TV-Leser im Rahmen unserer Zeitzeugen-Serie.

Es ist Silvester 1949. Heute werde ich ihn sehen, zum ersten Mal in meinem Leben! Er kennt mich auch nur vom Foto, von kurzen Briefen und Berichten meiner Mutter. Heute kommt mein Vater! Er wird mit der Eisenbahn kommen, nicht im Auto, nicht in einer Karosse, nein - im Zug. Wir, meine Mutter und ich, stehen am Bahnsteig in Gerolstein. Mutter hatte Wert darauf gelegt, mit mir allein zum Bahnsteig zu gehen. Unsere kleine Familie sollte sich zunächst einmal ohne die Verwandtschaft begrüßen dürfen, nach all den Jahren. Blumen habe ich zum Empfang mitgebracht, die schönsten, die wir auftreiben konnten. Wir sind sehr aufgeregt, vor allem meine Mutter. Hin und her, hin und her gehen wir auf dem Bahnsteig. Wie wird er aussehen? Mager? Blass? Werden wir ihn sofort erkennen? Wann kommt er denn nun endlich? Freuen soll ich mich! Lieb und freundlich sein! Einen Knicks machen, Blumen übergeben, Küsschen geben! Und das alles für einen "fremden" Mann? Nun bin ich fünfeinhalb Jahre, habe nur mit Mutter und Großmutter zusammengelebt in Salm, und dann kommt gleich mein Vater."Offiziere brauchen wir nicht mehr"

Sein Beruf ist Offizier, aber "Offiziere brauchen wir nicht mehr", hat Großmutter gesagt. Und woher kommt das Geld für Brot, für Essen und Trinken? Das werden wir sehen, hat Mutter gemeint. Über sechs Jahre hat sie ihn nicht gesehen. Zwei Jahre hatte sie überhaupt kein Lebenszeichen von ihrem Mann erhalten; im Ural sei er, in russischer Gefangenschaft, erfuhr sie nach bangem Warten. Eine Postkarte vom 20. Mai 1949 zu meinem bevorstehenden Geburtstag war eine der letzten Nachrichten vor der nun erwarteten Heimkehr. Und dann kommt die Dampflok mit drei Waggons. Mit drei Waggons, da kann er doch nicht drin sein! Es müsste doch ein unendlich langer Zug sein, es müsste so was Geschmücktes sein, ein Wagen wie für einen Präsidenten! Mein Vater kommt doch heute! Da sind wir aber enttäuscht! Der Zug hält, die Türen gehen auf. Zwei, drei Gerolsteiner, die in Köln zu tun hatten, steigen aus; und dann kommt er tatsächlich. Erst zögerlich, dann mit immer schnelleren Schritten stürmen Mutter und ich auf den Heimkehrer zu. Gesprochen wird nichts; man umarmt sich, man weint. Begrüßt man so einen Vater? Na ja, die Erwachsenen sind manchmal komisch. Wir freuen uns doch heute, da lacht man doch! Vielleicht ist der Mann zu dünn, so wie er dasteht? Hatten alle einen Helden erwartet mit Lorbeerkranz? Lächeln tut er ja, ganz sympathisch sogar, das gefällt mir. Er hat sowas wie Grübchen in den Wangen. Und groß ist er auch. Zwar hat er graue Haare, obwohl er erst 35 Jahre alt ist, aber er gefällt mir. Das eine Auge ist nicht so ganz in Ordnung, und am Kinn sieht man eine Narbe, aber er gefällt mir trotzdem. "Wer im Krieg war, hat immer Narben", hatte Großmutter gesagt, "vor allem an der Seele." Und dann überreiche ich artig meine Blumen und stelle mich dem fremden Vater vor: "Herzlich willkommen zu Hause; ich bin Gretel te Reh!" Wir gehen auf die Straße, wo der Großonkel mit dem Auto steht, um uns zur übrigen Verwandtschaft zu fahren, die uns voller Ungeduld zum Begrüßungsschluck und dem anschließenden Essen erwartet. Meine Entspannung nach diesen Aufregungen besteht in ausgiebigem Daumenlutschen, dabei kann ich meine Beobachtungen fortsetzen. Dieser Vater steht im Mittelpunkt meiner Betrachtung. Das gute Essen rührt er kaum an, dabei ist er doch so schlank. Trinken tut er nur kleine Schlückchen, nicht so wie die anderen Männer. Wasser wünscht er zum Wein, das verträgt er wohl besser. Immerfort schaut er meine Mutter an, umarmt sie, schaut mich an. Während die anderen erzählen, blickt er nur in die Runde und nickt, lächelt, schaut Mutter an, umarmt sie. Irgendwann wird es mir zu viel, ich dränge mich zwischen beide. Sie ist meine Mutter, und der Vater ist ja ein "Fremder"! Ich habe auch meine Ansprüche, da soll er mir nur nicht zu viel dazwischenfunken! Großmutter nimmt mich zu sich, gibt mir ihren Pudding mit Schokoladenstückchen und entzieht mich der neuen Situation. Der Text stammt von Gretel Körner, geb. te Reh. Ihre Mutter ergänzte später noch: Als ihr Mann damals in Köln in den Eifelzug eingestiegen sei, habe er sich zu einem fremden Herrn ins Abteil gesetzt. Die bevorstehende Begegnung mit Frau, Kind und Verwandtschaft machte ihn schrecklich nervös. Er konnte nicht stillsitzen und steckte mit seiner Unruhe den Fremden an, bis dieser ihn anherrschte: "Mann, was sind sie denn so aufgeregt? Nun kommen sie doch mal zur Ruhe!" Als Vater ihm von seiner Heimkehr zur Familie berichtete, war der Herr sehr gerührt und bot ihm zwei seiner mitgeführten Beruhigungstabletten an. Vater, so berichtete Mutter te Reh, war zwei Stunden nach seiner Ankunft immer noch etwas schlaftrunken!

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