Philosoph stellt die Schule auf den Kopf

Bitburg · Die Bühne des Eifel-Literatur-Festivals nutzt Richard David Precht zu einem Vortrag über die Unzulänglichkeiten des deutschen Schulsystems. Und: Er liefert einen Gegenentwurf dazu.

 Frontalunterricht à la Precht: Der Philosoph legt den Zuhörern in der Bitburger Stadthalle seine Ideen von einem besseren Schulsystem dar. TV-Foto: Vladi Nowakowski

Frontalunterricht à la Precht: Der Philosoph legt den Zuhörern in der Bitburger Stadthalle seine Ideen von einem besseren Schulsystem dar. TV-Foto: Vladi Nowakowski

Bitburg. Wie viele Menschen passen in die bestuhlte Bitburger Stadthalle? Die Frage kann Festival-Chef Josef Zierden seit Freitagabend beantworten: "875 Zuschauer. Wir mussten die Bühne verkleinern, um Platz für zusätzliche Stuhlreihen zu schaffen." Der Mann, der beim Eifel-Literatur-Festival an diesem Abend die Massen anzieht, ist der Philosoph, Fernsehmoderator und Buchautor Richard David Precht. In seinem aktuellen Buch "Anna, die Schule und der liebe Gott" kommt Precht zu einem vernichtenden Urteil über das Schulsystem der Bundesrepublik: "Es ist das schlechteste unter allen Industrienationen der Welt", sagt der Philosoph. Kinder seien bereits im Alter von neun oder zehn Jahren einer Selektion unterworfen, in der über ihre Zukunftschancen entschieden wird. "Wer aus einer bildungsfernen Familie stammt, wird aussortiert." Die Abhängigkeit des Schulerfolgs vom Elternhaus sei in Deutschland viel zu hoch. Die antiquierte Wissensvermittlung im Frontalunterricht auf den weiterführenden Schulen bezeichnet Precht als Bulimie-Lernen: "Der vermittelte Stoff wird gepaukt, um Tests und Prüfungen zu bestehen - und dann nicht mehr benötigt." Dazu gibt Precht einige Beispiele und hakt nach, wer im Publikum denn noch wisse, was ein Konsekutivsatz oder eine Molmasse sei, und was genau in der Goldenen Bulle stehe. Verschwindend wenige der rund 900 Besucher kennen die Antwort.
"Das ist Wissen, von dem sie schon beim Lernen wussten, dass sie es nie wieder brauchen können", sagt Precht. Seine Vision ist eine Schule, die statt Fächern Projekte bietet, in denen die Wissensgebiete sich ergänzen und überschneiden. Es sollen an Schulen Lernhäuser entstehen, in denen Kinder und Jugendliche über die gesamte Schulzeit hinweg von stets den gleichen Lehrern betreut werden - angelehnt an das englische College-System. "So ähnlich wie Slytherin und Gryffindor in Harry Potters Hogwards", veranschaulicht Precht die Idee. Kinder sollen nach ihren Neigungen und Talenten in Gruppen zusammengefasst werden und an Projekten teilnehmen, die sie gemeinsam mit ihren Lehrern entwickeln. Anstatt von Zensuren und Prüfungen, die im digitalen Zeitalter zunehmend an Sinn verlieren, schlägt Precht ein Castingsystem vor - auch für Menschen, die Lehrer werden möchten. "Nicht jeder, der ein Staatsexamen ablegt, ist dazu geeignet", lautet das ernüchternde Urteil des Philosophen.
Eine radikale Forderung des Philosophen ist die Einführung der allgemeinen Kindergartenpflicht ab dem Alter von drei Jahren. Prechts Auftritt beim Eifel-Literatur-Festival ist spannende Unterhaltung, schließlich betrifft das Thema Schule fast jeden der Besucher - seien es Eltern, Schüler und auch Lehrer - mitunter macht es auch betroffen.
Die Thesen des Populärwissenschaftlers sind durchaus umstritten, doch auch in Bitburg ist den Zuhörern klar, dass das Schulsystem vor großen Herausforderungen steht und einer Reform bedarf. "Unser Schulsystem stammt aus einer Zeit, in der man von Kindern keine Ahnung hatte", sagt Precht.

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