"Sein Kopf lag ein Stück weiter"

Drei Tage vor dem Weihnachtsfest griffen nachts amerikanische Jagdbomber mit Hilfe von Leuchtraketen Militärzüge auf dem Dauner Bahnhof an. Die Züge transportierten Soldaten und militärische Güter im Rahmen der so genannten "Rundstedt-Offensive", die eine "Wende" des Krieges im Westen herbeiführen sollte.Am nächsten Morgen berichteten die Leute erregt von vielen Toten und erheblichen Sachschäden.Aus jugendlicher Neugier beschlossen ein Spielkamerad aus der Nachbarschaft und ich, uns die Stätte der Verwüstung mal genauer anzusehen. Und dies, obwohl immer wieder Flugzeuggeräusche vom diesigen Himmel her zu hören waren. Unsere Mutter, die eine "Notapotheke" eingerichtet hatte und leitete, war damit gewiss nicht einverstanden. Eindringlich hatte sie mir und meinen Geschwistern untersagt, unsere Wohnung zu verlassen.Mit elf am Stock, Vater und Geschwister tot

Das Gehen fiel mir damals noch schwer, ich benutzte einen Stock. Eine Folge des Luftangriffs vom 19. Juli, der neben vielen anderen Daunern auch unserer Familie schreckliches Leid zugefügt hatte. Mein Vater und zwei Geschwister mussten sterben, unser Elternhaus, die Adler-Apotheke, wurde zerstört. Mich haben liebe Menschen schwer verletzt aus den Trümmern geborgen, elf Jahre war ich alt. Nach monatelangem Krankenhausaufenthalt lernte ich über Krücken wieder das Gehen. So humpelte ich an dem besagten Tag mit meinem Stock den Arensberg hinunter. Auf der Höhe des damaligen Möbelgeschäftes Zender angekommen, hörte man wieder Flugzeuggeräusche, Jagdbomber nahmen im Tiefflug den Bahnhof und seine Umgebung unter Beschuss und lösten Bomben aus, ich konnte es selbst sehen."Lauft alle schnell in einen Keller!"

In diesem Augenblick sah ich auf der Straßenmitte den Herrn Hoffmann, den ich von seiner Drogerie vor der Kirche her kannte. Er brüllte: "Lauft alle schnell in einen Keller!"Dafür war es aber bereits zu spät. Ich duckte mich unter einem Schaufenster des Möbelhauses auf den Boden. Dann verlor ich wohl die Besinnung. Als ich wieder zu mir fand, lag ich zwischen zerborstenen Mauerstücken auf der Straße. Vor lauter Staubwolken konnte man kaum etwas erkennen. Wenig später kamen zwei Männer, packten mich und trugen mich im Laufschritt - die Tieffliegerangriffe dauerten an - in einen nahe gelegenen Keller. Auf dem Weg dorthin sah ich den Rumpf des Herrn Hoffmann, sein Kopf lag ein Stück entfernt. Das einstige Möbelhaus Zender bildete nur noch einen Trümmerhaufen, aus dem Flammen zuckten und Rauch emporstieg.In dem niedrigen, gewölbten Keller drängten sich viele Menschen - vor allem Frauen und ein paar Kinder. Alle beteten bei Kerzenlicht inbrünstig den Rosenkranz.Meine Verletzungen waren zum Glück harmlos und ich wurde - mit einem Kopfverband geschmückt - am gleichen Tag nach Hause gefahren.Am Heiligen Abend saßen wir - wie es Brauch ist - am späten Nachmittag im einzigen warmen Raum, der ofengeheizten Küche, und warteten aufs Christkind. Kaum hatten wir uns unter dem kleinen, aber mit echten, brennenden Kerzen bestückten kleinen Christbaum ein frohes Fest gewünscht, die Erwachsenen prosteten sich mit einem Glas Moselwein zu, als wieder die Sirenen von der Burg Fliegeralarm gaben. Die Kerzen wurden hastig ausgeblasen, jeder schnappte seine Tasche mit den wichtigsten Utensilien und alle stürzten in den Keller.Einen frostig klaren Himmel bescherte uns der erste Weihnachtstag. Es lag Schnee. Wegen der andauernden Gefahr erneuter Fliegerangriffe schlossen die Erwachsenen einen Kirchenbesuch aus.Der Kreisarzt Dr. Reuland, ein enger Freund meines verstorbenen Vaters, hatte bei dem Angriff vom 19. Juli seine Frau verloren. Er sagte, wir müssten raus aus Daun, es würde zu gefährlich. Er besorgte eine Unterkunft in einer Jagdhütte am Asseberg oberhalb von Steinborn, wo wir das Kriegsende - nicht ganz friedlich, nämlich unter dem Beschuss amerikanischer Panzer - erlebten. STV-Leser Bernd Ernst ist in Daun geboren und aufgewachsen. Heute lebt der promovierte Jurist in Grünwald/Bayern.

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