Von der Tyrannei befreit

Als im Januar/Februar 1945 die Flakbatterie vom Daasberg abgezogen war und der Rückstrom der teils versprengten, teils nicht mehr vollzähligen Truppenteile nach der gescheiterten Ardennenoffensive von Tag zu Tag immer weniger wurde, war das Kriegsende für unsere Heimat allmählich absehbar. Es dauerte jedoch noch bis Anfang März 1945, ehe die Kämpfe zu Ende gingen und die Alliierten die Region besetzen konnten. Ehe es soweit war, hörten wir statt Bombenexplosionen den Kanonendonner, der stetig näher kam. Zwar ließen die fortlaufenden Bombardierungen mehr und mehr nach, jedoch blieb die ständige Bedrohung für Leib und Leben bestehen. Statt der Bombeneinschläge rückten die Artillerie-Granateinschläge näher und näher, so dass sich an unserem bisherigen Tagesablauf gegenüber den vorangegangenen Monaten nichts änderte. Unser Haus im "Brutecken" war bis dahin von Bomben- oder Granat-Treffern verschont geblieben, so dass wir weiter darin wohnen konnten. Es blieb uns erspart, Behelfsbehausungen im Wald oder Felshöhlen zu nutzen, um überleben zu können. Allerdings wagten wir es nach dem ersten verheerenden Bombenangriff auf Gerolstein am 24. Dezember 1944 nicht mehr, uns tagsüber noch darin aufzuhalten. Daher marschierten wir jeden Morgen vor Tagesanbruch in die Bunker auf den Daasberg, die von der dort stationierten Flakeinheit tagsüber für die Zivilbevölkerung zur Verfügung gestellt wurden. Vorher mussten wir, noch in der Dunkelheit, durch Trümmer- und Schutthaufen zur Bäckerei Böffgen (jetzt Café Hahnebrink) und zur Metzgerei Güth (jetzt Ternes) gehen und für Brot beziehungsweise Rindertalg "Schlange stehen", um die täglichen Rationen zu erhalten. Danach ging es so schnell wie möglich den Weg zurück nach Hause, sowie von dort auf den Daasberg in den Bunker, damit wir wenigstens vor dem hellwerden relativ sicher waren. Außer einem Bomberangriff auf die Flakstellung und wiederholten Tieffliegerangriffen haben wir dort keine stärkere Gefährdung erleben müssen, wobei die abgeworfenen Bomben in das freie Feld, Richtung Gees fielen. Abends, bei Anbruch der Dämmerung ging es wieder zurück nach Haus. Dann musste noch Wasser für den Haushalt herbeigeschafft werden. Dies wurde per Handwagen oder Schlitten in zwei großen "Einweck-Kesseln" einen Kilometer an einem Brunnen vorm Ortseingang von Pelm abgefüllt und nach Hause transportiert, da sämtliche Versorgungsleitungen zerstört waren. Die Beleuchtung erfolgte per Kerzen, Teelichtern, Karbid-, Petroleum- oder anderen Lampen. Nach dem kargen Abendessen gingen wir bald zu Bett, um Beleuchtungs- und Heilmaterial zu sparen und am nächsten Morgen wieder frühzeitig aufzustehen, um den Rundlauf, wie am Vortag wieder zu beginnen. Im Laufe der Zeit war man ziemlich abgestumpft und spulte fast automatisch denselben Rhythmus wieder ab. Als wir eines Abends gegen 20 Uhr durch die Waffen-SS aus den Häusern und wieder zurück auf den Daasberg gescheucht wurden, da Pioniere die Eisenbahnschienen alle paar Meter sprengten, begann sich das Kriegsende endgültig abzuzeichnen. Wir kehrten danach abends nicht mehr nach Hause zurück und verbrachten die letzten Tage in unserem Unterstand auf dem Daasberg, bis die amerikanischen GI´s uns Anfang März herausholten. Wir durften zurück in unsere Häuser, aber diese nur morgens sowie abends zum Wasserholen (zwei Eimer à zehn Liter pro Haushalt) verlassen. Dazu gingen wir in Begleitung eines bewaffneten GI bis zu der Wasserzapfstelle, oberhalb der Firma Erasmi. Nachdem die schier endlosen Panzer- und Fahrzeugkolonnen tagelang in Richtung Rhein durchgerollt waren, begannen alsbald die erforderlichen Aufräumungsarbeiten. Hierzu mussten alle männlichen Personen ab 15 Jahren mit Schaufel und Kreuzhacke zur Schutt- und Trümmerbeseitigung um 8 Uhr morgens erscheinen und tagsüber mitarbeiten, um den Flecken für Fahrzeuge wieder passierbar zu machen. Dies ging relativ zügig voran und war ein erstes Zeichen für Neubeginn und Wiederaufbau. Die Menschen erfassten allmählich, dass der Spuk vorbei war, und begannen wieder zu leben. Nachdem die ersten Schreckensnachrichten über die bei Befreiung der Konzentrationslager entdeckten, grausigen Zustände veröffentlicht waren, wurden der Bevölkerung, ebenfalls ab 15 Jahren, die Filmaufnahmen mit den vorgefundenen Leichenbergen und anderen Zuständen in diesen Lagern vorgeführt. Ein grauenvoller Schock

Die dort gezeigte Realität war erschreckend und unfassbar, sowie für alle diejenigen ein grauenvoller Schock, die wie ich dabei an die jüdischen Nachbarn sowie Mitschüler erinnert wurden, die seinerzeit deportiert und fast alle umgebracht worden waren. Damals wurde uns bewusst, welches ungeheure Ausmaß diese Schreckensherrschaft und der nationalsozialistische Terror gehabt hatte und wovon wir erlöst wurden. Erst da begann langsam die Erkenntnis, dass Deutschland zwar den Krieg verloren hatte und besetzt war, wir aber von dieser Tyrannei befreit waren. Walter Michels, Autor dieser Zeilen, ist Jahrgang 1930. Er lebt in Gerolstein.

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