Von einem, der sich traute

70 Jahre ist es her, dass in Deutschland die Synagogen brannten. Es war der grausame Auftakt der organisierten Vernichtung jüdischen Lebens unter der Herrschaft der Nationalsozialisten. Wer sich dagegen auflehnte, riskierte sein Leben. In Wittlich gab es einen Lehrer, der dieses Risiko einging.

 Das frühere Waisenhaus in Wittlich (links) mit Lehrer Stoll (rechts) ist eine fast vergessene Einrichtung. Foto: privat

Das frühere Waisenhaus in Wittlich (links) mit Lehrer Stoll (rechts) ist eine fast vergessene Einrichtung. Foto: privat

Wittlich/Rittersdorf. Der heute 82-jährige Johann Schmitz aus Rittersdorf erinnert sich an diesen couragierten Lehrer. Er hieß "Stoll", weiß er noch. Bei dem Vornamen ist er sich nicht mehr sicher: "Joseph", glaubt Schmitz, der als Zehnjähriger 1936 in das Wittlicher Kyffhäuser-Waisenhaus kam, das der Lehrer Stoll als Direktor führte. Wie seine etwa 100 Schützlinge lebte er mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern im Heim in der Koblenzerstraße, erinnert sich Johann Schmitz, der bis 1939 dort blieb.

Im Landeshauptarchiv in Koblenz gibt es nur den Eintrag, dass Stoll 1943 Heimleiter war. Kein Vorname, keine weitere Spur des Mannes. "Stoll war für uns Lehrer und Vater", erzählt Schmitz. Einen Satz des Heimleiters hat er bis heute nicht vergessen: "Ihr habt nach wie vor Herrn Ermann zu grüßen, auch wenn er ein Jude ist", verlangte der Lehrer von seinen Schülern - ein Aufbäumen gegen die anderslautenden Naziparolen.

Der Wittlicher Jude Alfred Ermann war Besitzer der Chemie-Fabrik in der Kalkumstraße, die mit ihrer Schuhcreme "Ermin" europaweit bekannt war. Der wohlhabende Unternehmer galt als Gönner des Waisenhauses.

Über die Beweggründe für Stolls riskante Äußerung, mit der er in der NS-Zeit Respekt vor einem jüdischen Mitbürger einforderte, kann nach seinem Tod im Jahr 1952 ("er starb in Dörbach", erinnert sich Schmitz) nur spekuliert werden. Johann Schmitz beschreibt Stoll als einen gläubigen Katholiken, der jede Woche einen Gottesdienst in der eigenen Hauskapelle feiern ließ. Er sei auch ein Mann "von altem Schrot und Korn" gewesen, der dem Militär nahestand.

Dazu passt, dass das Waisenheim auf eine Gründung des Kyffhäuserbundes zurückgeht. Zur Einweihung des Krieger-Waisenhauses im Jahr 1904 reiste eigens Prinz Eitel Friedrich von Preußen nach Wittlich. Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten wurde der Kyffhäuserbund, der in Deutschland noch weitere vier Waisenhäuser unterhielt, zum "NS-Reichskriegerbund Kyffhäuser e.V." gleichgeschaltet.

Natürlich machte sich Johann Schmitz als Zehnjähriger noch kein Bild davon, was es unter diesen Voraussetzungen bedeutete, dass sein Lehrer das nationalsozialistisch propagierte Verhalten gegenüber Juden öffentlich missbilligte. Erst nach dem Krieg wurde ihm klar: "Für Herrn Stoll, der ja als Lehrer von der Schulbehörde angehalten war, den Unterricht im Sinne der neuen Zeit zu gestalten, und der als Leiter des Hauses auch von der Direktion in Berlin entsprechende Anweisungen hatte, war es nicht ungefährlich, von uns Kindern zu verlangen, einen Juden zu grüßen."

Joseph Stoll wird nicht gewusst haben, dass zu diesem Zeitpunkt über das Schicksal von Alfred Ermann und seiner Familie bereits entschieden worden war.

Die Familie Ermann: Nachdem die Repressalien in Wittlich für den jüdischen Fabrikanten Alfred Ermann, seine Frau Bella van Amerongen und ihre vier Söhne immer stärker geworden waren, zog die Familie 1935 nach Köln. 1936 wurde Ermann von den Nazis enteignet. In der Reichskristallnacht flüchtete Ermann mit seiner Frau in ihre Heimat Holland. Von dort wurde das Ehepaar 1943 in das KZ Sobibor in Polen deportiert und dort ermordet. Die vier Söhne konnten sich verstecken und überlebten den Holocaust. (sys)Das Kyffhäuser-Waisenhaus: Nach Auskunft des Landeshauptarchivs in Koblenz stellte die Stadt Wittlich dem Deutschen Kriegerbund 1902 ein Grundstück im Distrikt "Zum Affenberg" zur Verfügung, um dort ein Waisenhaus zu errichten. 1903 wurde der Bau des Kriegerwaisenhauses unter der Leitung des Bauinspektors Fülles aus Trier begonnen und am 31. Juli 1904 eingeweiht. In den folgenden Jahren erhielt das Heim zahlreiche Erweiterungsbauten. Nach dem Einzug der Alliierten nahmen diese das Kyffhäuser-Waisenhaus unter ihre Kontrolle und richteten dort ein Sammellager für Ostarbeiter ein, das geht aus Akten des Landeshauptarchivs hervor. Durch Brandstiftung im Frühjahr 1945 wurde das Heim zum größten Teil vernichtet. Nach dem Wiederaufbau wurde das Gebäude als Ursulinenschule genutzt. (sys)

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