Gutachter lenken ein

NEROTH. Freude und Verärgerung zugleich: Nachdem der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) entschieden hat, den 76-jährigen Herbert Bochen aus Neroth nun doch noch einmal auf sein Pflegebedürftigkeit persönlich zu untersuchen, sind der Hausarzt wie auch die betreuende Nachbarfamilie zunächst erleichtert. Die Rechtfertigungsversuche des MDK empören sie dennoch.

"Der MDK sucht nur nach einer billigen Entschuldigung. Er sollte den Fehler zugeben, alles andere ist infantiles Verhalten", sagt Bochens Hausarzt über die Presseerklärung des MDK (der TV berichtete gestern). Danach hat der MDK angeblich erst aus der Zeitung erfahren, dass der 76-jährige Herbert Bochen aus Neroth demenzkrank ist.Die leitende Ärztin der rheinland-pfälzischen MDK-Hauptverwaltung in Alzey, Dr. Ursula Weibler-Villalobos, wertet die Demenz-Information als "neuen Sachverhalt", der eine erneute Begutachtung mit Hausbesuch rechtfertigt.Bochens Hausarzt sagt kopfschüttelnd: "Die Demenz ist doch nur ein Nebenschauplatz. Und wenn ein MDK-Gutachter im Gespräch mit dem Patienten nicht merkt, dass der Patient an Demenz leidet, disqualifiziert er sich selbst."Medizinischer Dienst: Haben korrekt gehandelt

Dr. Ellen von Itter, Pressesprecherin der AOK-Rheinland, hat in die Akten geschaut und festgestellt: "Wir haben am 7. August die zwei Atteste des Hausarztes, in denen auch von Demenz die Rede ist, in Kopie an den MDK weitergegeben." Am 15. August schickte der MDK ein erneutes Gutachten an die Krankenkasse. Erstellt hat dies ein anderer Gutachter nach Einsicht der Akten. Und die basierten auf der Patienten-Bewertung vom März.In der Presseerklärung macht der MDK klar: "Wir stellen abschließend fest, dass weder ein formales noch ein inhaltliches Fehlverhalten der beteiligten MDK-Gutachter vorliegt und die Vorgaben des Pflegeversicherungsgesetzes korrekt umgesetzt wurden." Außerdem erklärt Dr. Weibler-Villalobos: "Es gab keine Wertungsprobleme. Herr Bochen stellte in der Begründung seines Widerspruches die Begutachtung nicht in Frage." Danach habe Bochen dem Gutachter gesagt, dass er keine Hilfe benötige. Diese Aussage bringt das betreuende Ehepaar Nüsgen auf die Palme. Manfred Nüsgen weiß: "Er sagt immer ja, ja, ja und hat nix verstanden. Ohne Hilfe geht gar nichts. Man kann ihn nicht alleine lassen."Hingegen heißt es in der Presseerklärung, dass sich der Gutachter "durch eigene Inaugenscheinnahme" davon überzeugt habe, dass der beinamputierte, demenz- und diabeteskranke 76-jährige Rollstuhlfahrer "durch verbesserte Wohnumfeldgestaltung und persönliches Engagement" ohne fremde Hilfe zurecht kommt.Hausarzt: Zustand wird schleichend schlechter

Nüsgen machen diese Aussagen rasend: "Das kann nicht objektiv gewesen sein, denn er kommt beispielsweise mit dem Rollstuhl nicht nah ans Waschbecken ran, weil darunter ein Schrank ist."Bochen war nach 18 Monaten Gewährung ab Juni die Pflegestufe I aberkannt worden. Zuvor waren ihm 62 Minuten Pflegebedarf pro Tag zugebilligt worden. Für die Leitende MDK-Ärztin ist dies nicht verwunderlich: "Das 62-Minuten-Gutachten wurde nach einem relativ akuten Krankheitsfall erstellt, und danach sind mit Hilfsmitteln durchaus Verbesserungen möglich."Bochens Hausarzt ist völlig anderer Meinung: Er sagt: "Bochens Zustand wird schleichend schlechter." Die angesprochenen Verbesserungen würden sich meist nur bei jüngeren Patienten mit einem anderen Krankheitsbild einstellen.Fakt ist, dass der MDK in den nächsten Tagen Bochen begutachten lassen will. Dazu werden ihn ein Arzt und eine MDK-Pflegekraft besuchen. Laut Gesetz muss für die Anerkennung zur Pflegeversicherung ein täglicher Hilfsbedarf von mindestens 90 Minuten durch andere Personen vorliegen. Und davon müssen mehr als 45 Minuten auf die Grundpflege entfallen. Dazu gehört laut Dr. Weibler-Villalobos nicht, dass Bochen Hilfe benötigt, um aus seiner Souterrain-Wohnung über die Treppe auf die Straße zu kommen, Einkäufe zu tätigen oder zu bügeln.

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