"Irgendwie anders"

DREIS-BRÜCK. Wandern als Völkerverständigung: Langstreckenwanderer Heinrich Nettelmann geht die 1900 Kilometer lange Strecke von seinem Wohnort Bad Harzburg bis zu dessen französischer Partnerstadt zu Fuß. Kommende Woche wirft er in Luxemburg seinen Wahlschein zur Europawahl in den Briefkasten.

Gut gelaunt ist der 65-Jährige unterwegs. Am 11. Mai ist er in Bad Harzburg gestartet und hat am Pfingstwochenende etwa ein Viertel der Strecke geschafft. Dann machte er vier Tage Rast bei der Familie seines Sohns Thomas in Dreis-Brück bevor es am Donnerstag weiterging: "Über Gerolstein, Prüm, Luxemburg bis nach Port Louis, unserer französischen Partnerstadt in der Bretagne", beschreibt er den Streckenverlauf. Eigentlich wollte Nettelmann durch Sachsen wandern, aber "im ereignisreichen Jahr für Europa" entschied er sich für die 1900-Kilometer-Strecke nach Frankreich. Die Deutsch-Französische Gesellschaft unterstützt ihn. "Irgendwann Ende Juli" werde er in Port Louis erwartet. Aber vorher will Nettelmann den 14. Juli, "den französischen Nationalfeiertag, irgendwo in Frankreich erleben". Ebenso will er "irgendwo eine Etappe der Tour de France sehen". Irgendwo in Luxemburg will er am achten Juni seinen Wahlschein zur Europawahl in den Briefkasten werfen. Beim Start am Morgen habe er die Hauptrichtung vor Augen, aber keine exakte Ziel- und Entfernungsvorgabe. Zwischen 25 und 40 Kilometern will er täglich zurück legen. Nettelmann lebt seit zwölf Jahren ohne Uhr und ohne Auto. Damals verkaufte der Aussteiger sein Geschäft in Hannover und siedelte mit Ehefrau Jutta nach Bad Harzburg um. Seitdem hat sich das Ehepaar dem Wandern verschrieben und ist jede Woche etwa 100 Kilometer zu Fuß unterwegs. "Ein gutes Training für die drei Monate, die ich jedes Jahr alleine unterwegs sein darf", sagt Langstreckenwanderer Nettelmann.Von jedem Quartier ein Eintrag im Notizbuch

Bei seinen Touren achtet er auf "ein vernünftiges Frühstück, genügend Flüssigkeitszufuhr, viel Obst zum Mittagessen und abends meistens was Warmes". Er rechnet mit knapp 30 Euro Kosten pro Tag, für Unterkunft und Verpflegung. Mal übernachtet er in Pensionen, mal in Jugendherbergen oder privat. Lachend verrät er: "Beim Gespräch am Gartenzaun kommt es schon mal vor, dass die Leute einem spontan ein Quartier anbieten." Wie in Bretthausen (Westerwald) und in Gladenbach. Nettelmann lässt sich in einem blauen Notizbuch von jedem Quartier einen Stempel oder Eintrag geben. Außerdem führt er eine Art Tagebuch in Zettelform. "Vom jedem interessanten Ort nehme ich was mit, ein Prospekt oder eine Karte. Mit meinen Aufzeichnungen und einem lieben Gruß schicke ich das jede Woche an meine Frau", berichtet er. Zehn Kilo Gepäck hat er stets - und keinen Fotoapparat. Nettelmann tippt sich an den Kopf und sagt: "Da drin halte ich alles fest. Ich bin doch kein Tourist." Er merke, wie zufrieden er sein könne. "Dann fallen mir Verse von bekannten Philosophen ein, die ich vor mir hersage", verrät der 65-Jährige. Von den Geräuschen der Natur wie Vogelgezwitscher lässt er sich inspirieren und summt leise Lieder. Als "komischer Kauz" sieht sich Nettelmann nicht, aber doch "irgendwie anders".

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