Erinnerungen wecken Emotionen

HINZERT-PÖLERT. Wie hat sich die Bevölkerung zur Zeit des Sonderlagers Hinzert verhalten? Inwiefern wurde sie sogar Zeuge von erniedrigenden Handlungen, zu denen die SS die Häftlinge zwang? Diese sensiblen Fragen führten – ausgelöst durch eine Historiker-Tagung und den TV-Artikel über dieses Treffen – bei einer Einwohnerversammlung in der Gedenkstätte zu einer emotionsgeladenen Diskussion.

Nüchtern und sachlich, so der Wunsch von Ortsbürgermeisterin Mathilde Müller, sollte am Montag über eine Aussage diskutiert werden, die in Hinzert-Pölert für erhebliche Irritationen sorgte und teilweise auf großes Unverständnis bei den Einheimischen stieß. Was war geschehen? Vor kurzem hatte der TV über eine Historiker-Tagung im neuen Dokumentationszentrum berichtet. Unumstritten ist, das wurde auch am Montag von allen Seiten bestätigt, dass die Bevölkerung auch in den umliegenden Orten von dem Konzentrationslager wusste. Doch eine im TV in indirekter Rede wieder gegebene Äußerung des Berliner Universitäts-Professors Wolfgang Benz ließ die Emotionen bei den Einheimischen hochkochen. Demnach seien "Kirchgänger" sonntags bis an den Zaun des Lagers gekommen und hätten sich an den Häftlingen belustigt. Viele Hinzerter sehen sich und ihre Vorfahren damit zu Unrecht an den Pranger gestellt. Sie führen dabei unter anderem das Argument an, dass die Leute aus dem Dorf auf dem Weg zur Kirche nach Beuren normalerweise überhaupt nicht am Lager vorbeigekommen seien. Die von ihm angesprochenen Vorgänge im Lager seien durch Zeugenaussagen dokumentiert, heißt es dazu in einem Schreiben von Professor Benz, das dem TV vorliegt. Am Montag bestritt der Historiker seine abgedruckten Aussagen zumindest in einem Punkt: Den Begriff "Kirchgänger" habe er so nicht verwendet, ließ der Berliner Wissenschaftler über Uwe Bader, den Referatsleiter des NS-Dokumentationszentrums Rheinland-Pfalz in Osthofen, mitteilen."Olympiade der Nackten"

Die konkrete Quelle, auf die Benz Bezug genommen hatte, ist ein Zeitzeugen-Bericht von Peter Hassall (siehe Hintergrund). Der englische Häftling hatte Vorgänge nach dem sonntäglichen "Läuseappell" im Lager beschrieben und sich dabei an Beobachter dieser "Olympiade der Nackten" erinnert, die - nach ihrer Kleidung zu urteilen - "auf dem Weg zur Kirche hätten sein können". Wie Bader betonte, gibt es darüber hinaus noch weitere Aussagen von anderen Lager-Insassen, die die Beobachtungen von Hassall zu bestätigen scheinen. So hatten Maurice Coezard und Marcel Marchal folgendes berichtet: "Hunderte völlig nackter Männer mitten auf dem Appellplatz. (...) Für die Zivilisten, besonders die Frauen, bereitete dieser Anblick durch den Zaun ein großes Vergnügen." Spätestens als Gedenkstätten-Leiterin Beate Welter diese Zeitzeugen-Aussage vorlas, war es mit der Sachlichkeit vorbei. In der Diskussion schlugen die Wogen der Erregung hoch, und es wurde deutlich: Die Suche nach der historischen Wahrheit ist auch in Hinzert ein schwieriges und hochsensibles Unternehmen. Dafür gehen die Erinnerungen von ehemaligen Häftlingen und Einheimischen zu weit auseinander. Während Bader darauf verwies, "dass man diese Erinnerungen von mehreren Seiten nicht wegdiskutieren darf. Man muss sich ihnen stellen", verwahrten sich vor allem die Hinzerter Johann Schömer und Johann Weiler lautstark gegen diese Darstellungen. Sie berichteten, dass niemand am Zaun habe stehen bleiben dürfen und man sofort von den Wachmannschaften weggejagt worden sei. "Ich lasse mir das nicht gefallen. Ich habe dort nie einen nackten Mann gesehen", empörte sich der 79-jährige Weiler. Ähnlich äußerte sich auch eine ältere Frau aus dem Ort. Sie habe zwar im Lager sonntags häufiger die mobilen Kinovorführungen der Organisation "Kraft durch Freude" besucht, auf die der ebenfalls anwesende Autor des Hinzert-Forschungsbuches Volker Schneider hingewiesen hatte. "Ich habe aber keine nackten Männer gesehen", sagte sie. Als sich die Gemüter wieder etwas beruhigt hatten, machte Uwe Bader deutlich, dass die beschriebenen Vorgänge aus Sicht der Historiker kein hinzertspezifisches Phänomen sind. "Das werden Sie in anderen Außenlagern ähnlich finden." Zudem würden im neuen Dokumentationszentrum bewusst "beide Seiten" gezeigt. Will heißen: Im Hinzert-Haus sind auch Beispiele für Hilfeleistungen der Bevölkerung angeführt, von denen etwa der französische Häftling Joseph de la Martiniére berichtet hatte. Und vor allem: Die Berichte der Zeitzeugen sagten nichts über das Verhalten der ganzen Bevölkerung aus. "Es geht also auf keinen Fall darum, die Gemeinde nachträglich schuldig zu sprechen", sagte Bader zum Abschluss einer fast zweistündigen intensiven Auseinandersetzung der Hinzerter mit ihrer eigenen Vergangenheit.Wie ist Ihre Meinung zu dem Thema? Oder haben Sie eigene Erinnerungen an das KZ/SS-Sonderlager Hinzert? Ihre Zuschrift sollte maximal 30 Zeilen à 30 Anschläge lang sein und bis heute, 14 Uhr, in der TV-Redaktion vorliegen. Fax: 0651/7199-439; E-Mail: hochwald-echo@volksfreund.de.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort