Sinnsuche in der Dunkelheit

BESCHEID. Menschen, die von Geburt an blind sind, haben schon ein schweres Los. Doch wer die Welt mit seinen eigenen Augen sieht und dann erblindet, fällt in ein tiefes Loch. Bei Arthur Thömmes aus Bescheid war dies mit 48 Jahren der Fall.

Thömmes ist schwarzblind, das heißt: Er kann überhaupt nichts mehr sehen. Wären da nicht seine vierköpfige Familie, Freunde und sein unbändiger Lebenswille gewesen, würde das heutige Dasein des 60-Jährigen anders aussehen. Doch nun steht er in seinem Winterdomizil, einem zu einer Werkstatt umfunktionierten ehemaligen Schweinestall, und baut Vogelhäuschen und Klappern - ein Glockenersatz für die Karwoche. Im Hintergrund kommt aus dem Äther ganz leise Musik. Das Radio ist für den gebürtigen Schönberger das Tor zur Welt, für die er sich noch immer interessiert. Seinem Interesse am Neuen, an dem Anderen und seinem handwerklichen Talent verdankte er ein erfolgreiches Berufsleben: Er arbeitete sich vom Hilfsarbeiter über den Hilfsschlosser hoch bis zum Kraftfahrzeug-Mechaniker und schließlich KFZ-Meister. Mit 37 Jahren war er in einem Osburger Unternehmen verantwortlich für eine Lehrlings- und Mechaniker-Mannschaft. Die Schwierigkeiten mit seinen Augen fingen 1993 an, als ihm das stark blendende Sonnenlicht nicht gut tat. Am 11. Mai 1994 ,,fuhr" Thömmes seine letzte Schicht. Seine Augen streikten. Die erste Diagnose: Netzhauterkrankung "Retinitis pigmentrosa" - die so genannte Tunnelkrankheit - bewahrheitete sich nicht. Arthur Thömmes war in den Augenkliniken Sulzbach, Tübingen, Homburg und Aachen. Keine konnte ihm helfen. Der Anfang der Reise in ein anderes Leben begann mit einem ,,tiefen Sacker". Leute wandten sich von ihm ab, weil sie, aber auch er mit der neuen Situation nichts anzufangen wussten. Er wusste zwar, dass er eine "großartige" Familie hinter sich hatte, doch raus aus der Sackgasse führte ihn sein eigener Wille. Hilfe kam zudem vom regionalen Blindenverband Trier, bei dem er später drei Jahre lang Vorsitzender war. Über ihn konnte der Bescheider im August 1995 in Bad Liebenzell mit dem Mobilitätstraining beginnen. Das hieß: zu üben, sich mit dem Langstock zu orientieren. Zurück zu Hause, so hatte Thömmes gemeint, gehe es wie von selbst. Doch Pustekuchen. Da war er schon in ein Loch gefallen. Nervenzusammenbruch. Tabletten. Schreckliche Gedanken. Ruhig stellen. ,,Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner", war einer der Gedanken, den er damals hatte. Er unterhielt sich mit Gleichgesinnten und erkannte, dass er etwas tun musste gegen seine Trübsal. Seitdem ist er in seiner Werkstatt in seinem Element. Im Sommer hackt er Holz, das sein Sohn Daniel ihm auf Ofenlänge schneidet. "Die Leit", sagt er, "verstehen das nicht." Doch für ihn ist dies das neue Leben. Es gehe zwar etwas langsam, doch entscheidend sei, dass er sich nicht nutzlos fühle. Die Blindenschrift hat ihm der Vorsitzende des Landesblindenverbandes, Rainer Seibert, in einem Drei-Wochen-Lehrgang beigebracht. Mit diesem neuen Wissen wurde Thömmes in die Grundschule Beuren eingeladen, um den Kindern das Schreiben aus ,,Sicht" eines Blinden zu zeigen. Die Kinder begrüßten ihn mit einem von ihm später ertasteten Schriftstück, auf dem ,,Herzlichen Dank" stand. Nun freut sich Thömmes auf besseres Wetter. Dann kann er wieder spazieren gehen. Mittlerweile kommen die Leute auf ihn zu, um mit ihm ein Schwätzchen zu halten. Thömmes Leben hat wieder einen Sinn bekommen. Jenen sehenden und unzufriedenen Zeitgenossen, die in dieser dunklen Jahreszeit das Frühjahr herbeisehnen, erwidert er: ,,Was soll ich denn sagen? Bei mir ist es immer dunkel!"

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