Die weiße Fahne auf der Dorfkirche in Haag

HAAG. (red) Vom Saarland auf den Hunsrück evakuiert: Edmund Ertz erlebte das Kriegsende vor 60 Jahren in Haag. Er berichtet davon im Trierischen Volksfreund als Zeitzeuge.

Zu Kriegsbeginn 1939 wurden wir von Saarbrücken nach Haag im Hunsrück evakuiert, von wo auch meine Eltern stammten. Wir konnten bereits im Juni 1940 wieder in die Hauptstadt zurückkehren. In Saarbrücken wohnten wir in der Rotenbergstraße 9. Von 1939 bis 1945 war ich in St. Johann, der heutigen Basilika, Messdiener. Die ersten Kriegsjahre verliefen noch ruhig. Dies hatte allerdings im Juli 1942 ein jähes Ende, als während eines schweren Luftangriffs auf Saarbrücken - wir lagen noch alle im Bett, als die Bomben fielen - in etwa 250 Meter Entfernung eine Luftmine niederging. Die Fensterscheiben barsten unter der Druckwelle, und wir rannten so schnell wir konnten in den Luftschutzkeller. Der Angriff dauerte etwa 45 Minuten, die zur Ewigkeit wurden. Es gab 185 Todesopfer. Die schlimmsten Luftangriffe ereigneten sich 1944. Am Nachmittag des 11. Mai erfolgte ein schwerer Luftangriff auf Saarbrücken. Wir hatten gerade den Luftschutzkeller aufgesucht, da bekamen wir einen Bombenvolltreffer. Die ganze Familie war verschüttet. Der Luftschutzkeller stürzte zum Teil ein. Es war furchtbar - der aufgewirbelte Staub raubte uns den Atem. Nach Stunden grub man uns endlich aus den Trümmern. Mein kleiner Bruder Gerdi, er war gerade drei Monate alt, überlebte eingewickelt in eine Wolldecke auf dem Schoß meiner Mutter. Tote in der Einfahrt aufgereiht

Dort wo sein Kinderwagen gestanden hatte, war der Keller eingebrochen. Meine kleine Schwester Elfriede kam mit einer Kopfverletzung davon. Ich sah die ersten Todesopfer, die bei diesem Luftangriff umkamen. Auch meine Tante Christine und ein 18-jähriges Mädchen aus Russland, das als Hilfe im Lebensmittelgeschäft meiner Tante beschäftigt war, fanden den Tod. Wir hatten im Haus drei Tote, und nebenan im Keller, beim Beerdigungsinstitut "Laubach", waren vier Tote zu beklagen. Die Opfer wurden auf der Straße in eine Toreinfahrt gelegt - es war furchtbar. Später kamen sie in billige Holzsärge und wurden in Lastwagen zum Südfriedhof gebracht, wo sie zum Teil in Massengräbern beigesetzt wurden. Ich war als Messdiener dabei. Laut Doris Seck ("Saarbrücken im Bombenkrieg") kostete der Luftangriff auf Saarbrücken vom 11. Mai 1944 insgesamt 211 Menschen das Leben. Im September 1944 verließen wir die ausgebombte Stadt, wir gingen "auf die Haag". Dort lebte noch mein Großvater, bekannt unter dem Namen "Jäschkunche" und mein Onkel, der Bruder meiner Mutter. Tag und Nacht flogen hunderte Flugzeuge über uns in Richtung Rhein. Vom Erbeskopf aus wurde in unregelmäßigen Abständen eine V1- Rakete in Richtung England abgeschossen. Bei klarer Sicht konnte man sie sehen. Sie sah aus wie eine kleine Zigarre, die einen Schweif hinter sich herzog. Den ganzen Tag waren die "Jabos" (Jagdbomber) in der Luft. Sie suchten hauptsächlich die Raketenabschussstelle am Erbeskopf. Die Kartoffeln wurden zum Teil auf den Knien ausgemacht, so dass man sich im Falle eines Fliegerangriffs schnell im Kartoffelkraut verstecken konnte. Die Milch wurde im Schutze der Dunkelheit von einem Traktor nach Morbach gebracht, und auch die Kartoffeln wurden erst dann, wenn es dunkel war, mit Kuhfuhrwerken nach Hause gekarrt. Eines Tages bezog eine Flakeinheit Stellung auf der "Tum", einer Anhöhe am Dorf. Der Tross dieser Flakeinheit stand im dicht bewaldeten Tal (Gemarkung "Gondelbor"). Hier befand sich auch eine Jagdhütte, in der die Familie Götzfried lebte. Eines Nachts zog die Flak Hals über Kopf ab. Am andern Tag, gegen 12.30 Uhr, flogen Bomber dicht über den Wald, wo der Horst der Flakeinheit gestanden hatte. Frau Götzfried saß gerade mit ihren fünf Kindern am Mittagstisch als die Bomben fielen. Im letzten Moment konnten sie sich aus dem Gebäude retten. Sie kamen mit dem Leben davon, hatten aber alles verloren. So flogen jeden Tag hunderte Flugzeuge Richtung Rhein. Auch die "Leit Lings" waren immer dabei. Zweirumpfige Jagdbomber, die auch nach hinten, gegen die Flugrichtung, schießen konnten. Vor ihnen hatte ich besonderen Respekt. Des Abends sah man aus dem Westen ein Blitzen wie Wetterleuchten, von einem Grollen begleitet. Es war die Westfront, die täglich näher rückte. Es war im März 1945, die Bomber flogen tief über das Dorf. Meine kleine Schwester Elfriede saß unter dem Küchentisch und hielt sich die Ohren zu und weinte. Auch ich, die Bombenangriffe auf Saarbrücken noch in lebhafter Erinnerung, hatte große Angst. Zur Mittagszeit bat ich meine Tante "Hannchen" um ein weißes Leintuch (vom Großvater noch selbst gewebt). Ich lief mit dem Leintuch auf den Kirchturm, auf dem ich mich, da ich den Blasebalg für die Orgel drückte, gut auskannte. Ich fand eine Fahnenstange, knotete das Leintuch daran fest und steckte die weiße Fahne aus einem Schallloch des Glockenturms in Richtung Friedhof. Eine halbe Stunde später war die weiße Fahne verschwunden. Ich ging zurück zur Kirche, und da stand auch schon der Herr Pastor Böhm und sagte zu mir, dass falls die SS zurückkomme, sie uns beide erschießen würde. Ich entgegnete, die seien ja schon alle fort, und dass ich schon tagelang keinen deutschen Soldaten mehr gesehen hätte. Er gab mir das Leintuch wieder. Ich hängte es zurück an dieselbe Stelle am Kirchturm. Dort blieb es auch für den Rest des Tages. Abends sagte meine Mutter zu mir: "Vielleicht hat der da oben die weiße Fahne gesehen und das Dorf verschont." Amerikaner auf dem Weg nach Morbach

Das Dorf war ungeschützt, kein Bunker und kein Stollen waren vorhanden. Ein Bombenteppich wäre furchtbar gewesen. Einige Tage später fuhren amerikanische Schützenpanzer durch die geöffnete Panzersperre aus Richtung Morbach ins Dorf. Kein Schuss fiel, alles blieb ruhig. Damit war der Krieg für uns beendet. Der Autor dieses Zeitzeugenberichtes, Edmund Ertz, ist Jahrgang 1931. Er ist gebürtiger Saarbrücker und lebt heute in Kleinblittersdorf.

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