Salat vom Nachbarn

DEUSELBACH. Seit April 2003 betreut "Live", Kulturpädagogische Projekte, in Deuselbach rund um die Uhr vier Jugendliche, die unter zerrütteten familiären Verhältnissen leiden. Nach anfänglicher Skepsis haben die Deuselbacher die ungewöhnliche Wohngemeinschaft akzeptiert.

Wenn Karsten Kronacher über den Hunsrück und Deuselbach spricht, dann sieht er höchst zufrieden aus. Vor dem Panorama-Fenster seines Aufenthaltsraums breitet sich ein kurz gehaltener Rasen mit einer aufgeräumten Terrasse aus; die Gärten und Salatbeete der Nachbarn grenzen unmittelbar an das kleine Grundstück. Kronacher deutet nicht ohne Stolz mit der Hand hinunter: "Keine Zäune." Auch wenn es am Anfang Bedenken gegeben habe - die Nachbarschaft funktioniere einwandfrei. "Wir bekommen von den Anwohnern sogar Salat geschenkt." Doch das war nicht immer so. "Einige sind anfangs sehr skeptisch gewesen", erinnert sich Ortsbürgermeister Reinhard Manz, aber er habe schon lange keine Beschwerden mehr gehört.Karsten Kronacher ist einer von vier Betreuern der Intensivwohngruppe für Jugendliche in Deuselbach, sozusagen ein Außenposten der Jugendhilfe "Live", dem Verein für Kulturpädagogische Projekte in Thalfang. In Zusammenarbeit mit den regionalen Jugendämtern und betroffenen Familien kümmert sich die Organisation um Jugendliche, die an schwierigen häuslichen Verhältnissen zu zerbrechen drohen. Jugendliche wie Liane ( Namen von der Redaktion geändert ), 13 Jahre, Eltern beide arbeitslos, die Mutter Alkoholikerin. Oder Fredi, 15 Jahre, dem die Scheidung seiner Eltern zu schaffen macht. Aggressives Verhalten, mangelndes Vertrauen, Introvertiertheit, kleinere Diebstähle, Alkohol - die Signale eines aus der Bahn geworfenen Jugendlichen sind mannigfaltig. Sie werden oft erst erkannt, wenn es zu spät ist, wenn die Jugendlichen den sozialen Kontakt zur Gesellschaft bereits abgebrochen haben. "Sie sind halt unbequem geworden," bringt Kronacher es auf den Punkt.Fast wie im normalen Haushalt

Aber dass sich hinter diesen unbequemen Kids oft überraschende Begabungen verbergen, das sähen die wenigsten. Die Deuselbacher Intensivwohngruppe ist diesen verschütteten Begabungen mit einem ungewöhnlichen Betreuungsmodell auf der Spur. Die Gruppe ist mit zur Zeit zwei weiblichen und zwei männlichen Jugendlichen im Alter zwischen zwölf und 19 Jahren absichtlich klein gehalten; die vier Betreuer wechseln sich ab und wohnen jeweils eine ganze Woche bei ihren Schützlingen, was eine engere Aufsicht und Bindung gewährleistet als ein ständiger Schichtwechsel.Daher geht es in der Wohngruppe auch fast so zu wie in einem normalen Haushalt: Früh um sechs Uhr geht's raus, dann Schule, Mittagessen, Hausaufgaben, Putzdienst, Freizeit. Gerade der disziplinierte Tagesablauf habe sich als große Stütze für die Jugendlichen erwiesen. Zusätzlich sieht einmal im Monat ein Psychiater oder Neurologe vorbei.Am Ende steht das wieder- gewonnene Selbstwertgefühl der Jugendlichen, die selbstständige Bewältigung des Alltags und die soziale Integration bis hin zu Ausbildungs- und Berufsfragen. Kronacher zieht nach den ersten Monaten in Deuselbach ein positives Fazit für die Entwicklung seiner Schützlinge. Für das Natur-Erleben, das neben künstlerischen Betätigungen eine besonders große Rolle in der Wohngruppe spielt, ist der raue Hunsrück eine ideale Basis. Da geraten Jugendliche, die zuvor keine Ahnung hatten, woraus Kräutertee gemacht wird oder wie ein Kuhstall von innen aussieht, regelrecht ins Staunen. Und die Fähigkeit zu staunen ist nicht selten der erste Schritt zu einem neuen Leben.

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