Aufwühlender Abend

TRIER. Zu einem außergewöhnlichen Erlebnis geriet die Aufführung des Oratoriums "A child of our time" von Michael Tippett in St. Maximin. Der Trierer Konzertchor gedachte mit dem anspruchsvollen Werk des Kriegsendes vor 60 Jahren.

Kann Musik die Welt verändern? Wohl nicht, aber sie kann zum Nachdenken bringen, Markierungspunkte setzen, Bewusstseinsprozesse auslösen. Man darf es zumindest hoffen. Von den 500 Besuchern, die in St. Maximin dem Oratorium "A child of our time" lauschten, wird wohl niemand unbeeindruckt in der Dunkelheit nach Hause gegangen sein. Zu großartig, aber auch zu bedrückend ist das kraftvolle Werk für Chor, Orchester und vier Solisten, das, obwohl um 1940 geschaffen, auf eine im Kern traditionelle Musiksprache zurückgreift. Schade, dass es beim Publikum schon aufgrund des Entstehungszeitpunkts unter "Moderne-Verdacht" steht - in die ehemalige Abteikirche hätten fast doppelt so viele Zuhörer gepasst.Wer nicht da war, brachte sich um ein Erlebnis

Wer nicht da war, brachte sich um ein Erlebnis. Tippetts Beschäftigung mit der Verfolgung und Ermordung der Juden wühlt auf, nicht nur wegen der thematischen Anbindung an das Schicksal eines 17-Jährigen, der aus Verzweiflung einen deutschen Botschaftsangehörigen tötete und den Nazis damit den willkommenen Vorwand für die Reichspogromnacht am 9. November 1938 lieferte. Das Oratorium bleibt nicht bei der Nacherzählung einer Lebensgeschichte stehen, es knüpft daran elementare Fragen nach Schuld und Sühne, nach Verzweiflung und Hoffnung in einer Zeit, da sich "die Welt auf ihre dunkle Seite drehte", wie es im ersten Satz des Werkes heißt. Die zusätzlichen Texte, die der Schauspieler Michael Degen eigens für die Trierer Aufführung ausgesucht hatte, passten nicht nur, als seien sie für diesen Zweck geschrieben - sie überhöhten das Oratorium fast zu einer Passionsgeschichte. Dabei verzichtete Degen auf Pathos, trug in täuschend gelassenem, beiläufigem, bisweilen geradezu heiterem Erzählstil zwei Geschichten vor, deren Grauen dadurch um so stärker zu Tage trat. Aus seiner eigenen Feder stammte das Protokoll einer Frau über ihre letzten Stunden vor dem Gas-Tod in einem Vernichtungslager. Von Friedrich Torberg las er die Geschichte eines KZ-Häftlings, dem seine Aufseher die "Wahl" zwischen Tod durch Folter und Selbstmord ließen. Im Mittelpunkt die gleichen Fragen wie im Oratorium: Wie viel muss ein Mensch erleiden? Wann darf, wann muss, wann kann er sich wehren? Ist Rache die Sache einer höheren Instanz? Gibt es einen Gott, wenn solche Gräuel möglich sind?Programmheft erleichtert Verständnis

Wer wollte, konnte in Tippetts Texten und Klängen nach Antworten auf Degens Fragen suchen. Ein exzellentes Programmheft erlaubte es auch Nicht-Experten, den Sinn nachzuvollziehen. Es gab aber auch die Option, sich den wuchtigen Klangwolken, der tiefen Traurigkeit, den hoffnungsvollen Gebeten Tippetts einfach so zu überlassen. Der Konzertchor meisterte die schwierige, klippenreiche Partitur mehr als respektabel. Vor allem, wo es um dynamische Akzente ging, wo sich die Stimmen, angeführt von einem beeindruckenden Sopran, zu Höhenflügen verbanden, gab es viele große Momente. Nicht immer ganz so geglückt: Die komplizierten rhythmischen Passagen. Die integrierten Spirituals swingten nicht, klangen zu konzertant. Die städtischen Philharmoniker musizierten ohne Fehl und Tadel, und bei der Auswahl der Solisten bewies Dirigent Manfred May einmal mehr ein feines Händchen. Das war schon nah an einer Idealbesetzung, von Julia Borcherts wunderschöner "messa di voce" über Sybille Fischers in der Höhe klangvollem Mezzo und Tobias Scharfenbergers prägnantem Umgang mit dem Wort bis zu Helmut Wildhabers emphatischem Aufbegehren. Zehn Sekunden andächtige Pause nach dem letzten Ton - dann ein langer, anerkennender Beifall. Entspannt und erleichtert konnte er nach diesem Werk nicht sein.

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