Bewegend und erhaben

TRIER. Tief bewegend und erhaben gestaltete sich ein Konzert von Avitall Gerstetter, der ersten deutschen jüdischen Kantorin, in der Tufa Trier. Mit synagogalen Gesängen und jiddischen Liedern verzauberte sie das Publikum.

Die Begrüßung für Avitall Gerstetter im großen Saal der Tufa fiel sehr herzlich aus. Denn auf Einladung der Jüdischen Kultusgemeinde in Trier erwartete sie eine große Schar interessierter Zuhörer und Zuhörerinnen sowie Triers Kulturdezernenten Ulrich Holkenbrink, der einführende Worte zu der eher ungewöhnlichen Veranstaltung sprach. Strahlend betrat schließlich die Künstlerin die Bühne und verbannte die Unstimmigkeiten im Vorfeld des Auftritts (der Trierische Volksfreund berichtete) endgültig in die Vergangenheit: "Bald ist Jom Kippur, der Tag der Versöhnung. Und nach einem wunderbaren Entschuldigungsschreiben bin ich ja nun hier", sagte sie versöhnlich. Dann begann sie zu singen, und spätestens jetzt blieb kein Raum mehr für solch' schnöde weltliche Probleme oder belastende Gedanken. Blendete schon das die Bühne ausfüllende Charisma der zierlichen Sängerin, dann noch viel mehr ihre Stimme, bei der sich mancher Zuhörer fragte: "Wie kommt sie in diese zarte Frau?" Groß, kraftvoll und erhaben, dazu rein und klar nahm sie mit warmem Timbre von Saal und Gemütern Besitz.Facetten jüdischen Lebens

Es entfaltete sich eine andächtige Atmosphäre, denn Sängerin und Gesang verströmten sakrale Würde. Nicht von ungefähr: Im ersten Teil des Programms stellte Avitall Gerstetter Lieder aus der synagogalen Liturgie vor. Zum Beispiel "Mein Vater, mein König", das am Versöhnungstag gesungen wird, oder Teile aus dem 18-Bitten-Hauptgebet. Ihre Haltung, mit dem von ausgestreckten Armen getragenen Notenheft, erinnerte dabei an die einer Priesterin. Mit offensichtlich tief in Inneren wurzelnder Hingabe intonierte sie Gotteslob, Bitte und Hoffnung, gesungene Gebete voller Melancholie. Tieftrauriges und Elegisches

Auffallend sensibel wurde sie dabei von Ehrke Urbanovic am Flügel begleitet, die die jeweilige Stimmung wie ein Seismograph stets perfekt wiedergab, nicht nur im Spiel, sondern auch mimisch. Im zweiten Teil entführten Sängerin und Pianistin ihre gebannten Zuhörerschaft in die weltlicheren Gefilde und unterschiedlichen Facetten des jiddischen Liedes. Keck und spitzbübisch interpretierte Avitall Gerstetter einen humorvollen Dialog zwischen Handwerkern eines Schtetls, die ihren Kantor loben: "Der singt wie ein Stich mit der Nadel, nein, wie ein Schlag mit dem Hammer - na den Kantor will ich kennen lernen!". Dann gab es wieder Tieftrauriges und Elegisches, wie "Wohin soll ich gehen", eine hoffnungslose Klage über die Heimatlosigkeit des jüdischen Menschen schlechthin. Jiddische Lieder seien meist in Not entstanden, erklärte die Sängerin dem Publikum und brachte anschließend Beispiele, die gerade deshalb wiederum auch Lebensfreude verkündeten.In Dur-Tonart allerdings gab es nur ein Stück, und das war ausgerechnet ein Lied, das anlässlich von Todesfällen in der Synagoge gesungen wird. Den vielseitigen, ergreifenden musikalischen Einblick in jüdische Kultur und Befindlichkeit honorierten die Zuschauer mit begeistertem Applaus - der Ausklang eines besonderen Abends.

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