Brutale Jugendjahre einer Metropole

KÖLN. Anhand vom New York des 19. Jahrhunderts lässt sich sehr gut die gesamte Geschichte von Amerika ablesen und wie daraus ein Staat wurde. Es ist das Thema von Martin Scorseses Film "Gangs of New York".

"Gangs of New York" spielt wie schon Ihr früherer Film"Zeit der Unschuld" im New York des 19. Jahrhunderts. Wasinteressiert Sie an dieser Ära? Scorsese: Ich bin in der Gegend aufgewachsen, die früher die Five Points waren. Und mich haben einfach die Menschen interessiert, die vor mir und vor meiner Familie dort gelebt haben. Der Bürgerkrieg und vor allem dessen Ende spielte eine große Rolle in New York. Was daraus entsprang, war zunächst eine klassenlose Gesellschaft. Aber vorher gab es die Upper Class, die Lower Class und die Unterwelt, die sehr nah beieinander wohnten. Die Entwicklung interessiert mich.

Wo genau liegt Five Points, der Hauptschauplatz von "Gangs", im heutigen New York?

Scorsese: Also, zunächst einmal sind nur noch zwei Points oder Ecken der fünf übrig. Der Schauplatz des Films liegt heute genau zwischen Chinatown, dem griechisch-römisch anheimelnden Justizgebäude, und einen Polizeigebäude, dass man "Tombs" (Gräber) nennt, und das das Stadtgefängnis von New York ist.

Haben Sie die gewalttätigste Zeit New Yorks beschrieben, oder herrscht die heute dort auf den Straßen, wie gerne von den Medien behauptet wird?

Scorsese: Vom Gewaltmaß her ist damals durchaus mit heute zu vergleichen, aber heutzutage herrscht eine andere Art von Gewalt. Früher passierte sie im Stadtzentrum, heute hat sie sich in die Vorstädte verlagert. Als wir für "Gangs" recherchierten, waren wir lange Zeit überzeugt davon, es mit dem brutalsten Abschnitt in der Geschichte New Yorks zu tun zu haben. Nach dem bewaffneten Widerstand gegen die Zwangsrekrutierung für den Bürgerkrieg wurden tatsächlich Gesetze geschaffen, die vor allem den Armen zugute kamen, aber damit war ab 1865 auch wieder Schluss. Ein wirklicher Umschwung passierte allerdings mit der Erfindung der Fotografie.

Inwiefern?

Scorsese: Jacob Riis begann um 1870 herum die Menschen und ihr Leben in der Lower Eastside zu fotografieren, und diese Aufnahmen berührten New Yorks Stadt- oberhäupter so sehr, dass sie begannen, die Lebensumstände der Ärmsten zu verbessern. Heute versucht man von vornherein mehr für die sozial Minderbemittelten zu tun, aber arme, kranke, arbeitsunfähige und unterdrückte Menschen wird es immer geben. Zudem ist New York eine Insel, auf der zwölf Millionen Menschen aus verschiedensten Kulturen leben. Da kommt es zwangläufig zu Gewalt.

Es war demnach sinnvoll, so viel Gewalt und Blut zu zeigen?

Scorsese: Zunächst einmal glaube ich, dass viele Leute vergessen, wie hart das Leben auf der Straße ist. Gleich um die Ecke eines Schlachters zum Beispiel. In der Elizabeth Street sind heute alle bis auf einen Schlachter zu Boutiquen umgebaut. Damals lief dort das Blut über das Kopfsteinpflaster. Ich habe als Kind noch gesehen, wie in diesen Schlachtereien Tiere getötet und zerteilt wurden. Ich und die Generationen vor mir, wir hatten überhaupt keine andere Wahl, als eben in dieser Straße an den Five Points zu leben und all das zu sehen.

Dennoch birgt Gewaltdarstellung stets auch eine verführerische Faszination.

Scorsese: Unser größtes Problem dabei war, die Gewalt nicht zu plakativ erscheinen zu lassen. Man sieht eigentlich gar nicht, wie jemand erstochen wird. Man hört es mehr, und per Schnitt sieht man das Ergebnis. Man zuckt allein schon durch das Geräusch und das Wissen um das Ergebnis zusammen, aber man sieht es eigentlich nicht. Doch ich hätte diesen Film nicht machen können ohne Gewalt. Also musste ich einen Weg finden, sie zu zeigen.

Haben Sie während des Filmens etwas aus der Geschichte gelernt?

Scorsese: Was ich mit diesem Film zeigen wollte, ist der Wunsch des Menschen nach einem menschenwürdigen Leben. Anfang des 19. Jahrhunderts mussten sie dafür kämpfen und einiges durchstehen, damit sie in der Lage waren, sich selbst und eine Familie am Leben zu erhalten. Auch wenn ich dafür ein historisches New York anstrenge, ist dieser Überlebenskampf durchaus auch heute noch überall in der Welt an der Tagesordnung.

Wie kamen Sie auf Leonardo Di Caprio als Darsteller?

Scorsese: Ich hörte zum ersten Mal von Di Caprio, als Robert DeNiro ihn 1993 erwähnte. Beide drehten damals "This Boy\\\\'s Life" zusammen. Damals war Di Caprio 16 Jah- re alt; es war sein erster Film. Ich höre heute noch, wie DeNiro sagte: "Den Jungen musst du dir anschauen!" Und genau das tat ich, ich schaute mir danach noch "Gilbert Grape" an und auch "Total Eclipse". Di Caprio gefiel mir, auch wenn ich nicht damit rechnete, dass ich jemals mit ihm arbeiten würde. Sein Name kam dann von ganz anderer Seite auf. Das war nach "Titanic". Ich hatte Di Caprio und seine Entwicklung beobachtet. Eine Entwicklung, die nach Vielseitigkeit strebte, so wie ich es auch an den Schauspielern schätze, von denen ich viel halte, etwa Robert DeNiro oder Dustin Hoffman und Al Pacino. Insofern hat DeNiro also schon vor zehn Jahren den Eindruck bestätigt und meine Entscheidung für Di Caprio als einen der Hauptdarsteller in "Gangs" gefestigt.

Ihr Kameramann Michael Ballhaus bezeichnet "Gangs" als seinen bisher schönsten Film. Stimmen Sie dem zu?

Scorsese: Ballhaus ist mein engster Mitarbeiter, wir haben acht oder neun Filme zusammen gemacht. Er und sein Sohn Florian, der diesmal Kameramann des zweiten Teams war, haben sich sehr viele Gedanken um die Beleuchtung gemacht. Wir nahmen uns holländische Maler zum Vorbild, Breughel und Frans Hals. Ein Gemälde von William Hogarth stellten wir sogar am Set nach. Ballhaus ging es nämlich besonders um die Schaffung von natürlichem Licht.

Hatte der 11. September Änderungen beim Schneiden des Films zur Folge?

Scorsese: Natürlich hat uns der 11. September beeinflusst. Zunächst hieß es von Harvey Weinstein, dass wir den Film nicht zu Weihnachten 2001 in die Kinos bringen sollten. Aber da war er sowieso noch nicht fertig. Filmisch hatte der 11. 9. jedoch keine Auswirkungen auf die Endfassung. Im Finale ist die New Yorker Skyline zu sehen. Natürlich hat man mir vorgeschlagen, dass ich im letzten Bild die Twin Towers einstürzen lasse, aber mein Argument war: Die Menschen, die ich im Film zeige, sind der Grundstein für die Schaffung dieser Skyline, nicht für ihre Zerstörung.

Was sind Ihre nächsten Projekte?

Scorsese: Ich werde zusammen mit Di Caprio "The Avaitor" drehen. Der Stoff handelt von einem Mann, dessen Leidenschaft das Fliegen ist, und der zu einem der größten Helden der Luftfahrt wurde: Howard Hughes.

* Die Fragen stellten unsere Mitarbeiter Edda Bauer & Uwe Mies

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