Chopin unterm Zuckerhut

Ernesto Nazareth (1863-1934) gilt als einer der einflussreichsten Gründerväter, wenn nicht der Begründer der modernen brasilianischen Musik. Er selbst orientierte sich, wie viele Künstler seiner Zeit, am Idiom der europäischen Musik, und hier vor allem an Frédéric Chopin, dem er in vielen seiner Stücke ("Confidências", "Turbilhão de beijos") unüberhörbar nacheiferte.

Nazareth, der lange Jahre als Stummfilmbegleiter im "Odeon"-Kino in seiner Heimatstadt Rio de Janeiro arbeitete - dem Filmpalast setzte er ein gleichnamiges musikalisches Denkmal -, komponierte Polkas, Walzer und vor allem "tangos brasileiros", als deren Erfinder er gemeinhin angesehen wird. In seinen weit über 200 Kompositionen verschmolz er die ausgeprägte brasilianische Rhythmik und den harmonischen Farbenreichtum der europäischen Spätromantik zu einem sehr eigenständigen Stil. Mit dem beeinflusste er seinerseits europäische Komponisten wie Darius Milhaud und vor allem Landsleute wie Heitor Villa-Lobos, der Nazareth als "die wahre Seele der brasilianischen Musik" bezeichnete, sowie Antonio Carlos Jobim, den Wegbereiter der Bossa Nova in den 50er Jahren. Die brasilianische Pianistin Iara Behs, die unter anderem an der Musikhochschule in Karlsruhe studierte, spielt 17 der Ohrwurm-verdächtigen Werke Nazareths mit Verve, ausgeprägtem Rhythmus-Gefühl und ohne jeden Anflug von Sentimentalität, was besonders bei den in Opulenz schwelgenden "Chopiniaden" ziemlich naheliegt. In der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts gehört Ernesto Nazareth, der in geistiger Umnachtung in Rio starb, sicher nicht zu den Schwergewichten. Aber als Vertreter der "Música Popular Brasileira" hat er mehr Beachtung verdient, als ihm - zumindest außerhalb seiner Heimat - bislang zugestanden wird. Rainer Nolden Ernesto Nazareth: Tangos, Waltzes and Polkas. Iara Behs, Klavier. Naxos 8.557687.

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