Das Lachen, das im Halse stecken bleibt

Mit einer spartenübergreifenden Kraftanstrengung des gesamten Hauses hat das Trierer Theater am Vorabend des 70. Jahrestags der Reichspogromnacht das Musical "Anatevka" von Jerry Bock auf die Bühne gebracht. Die Geschichte des jüdischen Milchmanns Tevje und seiner Familie fand beim Publikum großen Zuspruch.

 Erfolgreiche Premiere für „Anatevka“ im Theater Trier: Pawel Czekala (als Milchmann Tevje, rechts ) und Dunja Rajter (als seine Frau Golde). TV-Foto: Friedemann Vetter

Erfolgreiche Premiere für „Anatevka“ im Theater Trier: Pawel Czekala (als Milchmann Tevje, rechts ) und Dunja Rajter (als seine Frau Golde). TV-Foto: Friedemann Vetter

Trier. "Anatevka" ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits kommt das Broadway-Erfolgsmusical von 1964 als hitgespicktes, bisweilen boulevardeskes Unterhaltungs-Stück daher. Andererseits thematisiert es die tieftraurige Geschichte von der Vertreibung der Juden - ohne sie zu beschönigen. Die Kunst der Inszenierung besteht darin, "Anatevka" nicht auf eine politische Tragödie zu reduzieren, es aber auch nicht zur folkloristischen Schmonzette verkommen zu lassen. Es darf und soll gelacht werden, aber das Lachen muss irgendwann im Halse stecken bleiben.

Die Trierer Produktion findet einen überzeugenden Weg, der die Platzierung der Premiere an diesem historischen Datum rechtfertigt. Vor allem das Schluss-Bild, das Tevjes zerbrochenen Milchwagen inmitten zahlloser Koffer auf einer menschenleeren, rotierenden Drehbühne zeigt, bleibt haften. Regisseur Peter Zeug lässt den Vorhang über einem letzten Moll-Ton des Orchesters niedergehen, und dann passiert zehn Sekunden lang nichts. Ein irritierender, aber notwendiger Bruch, erinnert er doch ohne Worte daran, dass der Weg von Tevjes Kindern und Enkeln 35 Jahre später in den Gaskammern von Auschwitz und Birkenau enden wird.

Ansonsten verzichtet die Inszenierung auf vordergründige Politisierung ebenso wie auf Chagall-Romantik und russisches Dorf-Idyll. Der Regisseur arbeitet stringent, schnörkellos und mit unaufdringlicher Professionalität.

Und er schafft, was selten gelingt: Das heterogene Riesen-Aufgebot aus Sängern, Schauspielern, Tänzern, Chor, Statisterie bis hin zu den kleinsten Kinderrollen zu einer geschlossenen, ausgewogenen Ensemble-Leistung zusammenzuschweißen.

Überzeugend auch die Bilderwelt, die Zeug zusammen mit der Ausstatterin Anita Rask-Nielsen entwickelt. Die Dorf-Welt wird nur angedeutet, im Hintergrund spielt der "Fiedler auf dem Dach" vor einem kleinen Stück Himmel. Tevjes Wagen, Bänke, Holzzäune, verschiebbare Wände, stimmungsvolles Licht, ein Schienenstrang in den Bühnenhimmel, eine herrlich-skurrile Traumsequenz: Das reicht vollkommen, um das Ambiente zu skizzieren. Die Macht, die die Vertreibung der Menschen anordnet, bleibt anonym.

Jens Bingerts musikalische Interpretation passt ideal zur Szenerie. Gradlinig, genau, frei von Schmus, schmissig intonieren die städtischen Philharmoniker Jerry Bocks Musik, und Bingert, in Personalunion Dirigent und Chorleiter, hält Graben und Bühne souverän zusammen, ohne dabei eine Sekunde angestrengt oder gar verkrampft zu wirken.

Das muss er auch nicht, angesichts der Spielfreude seines Chors, der die kleineren Solo-Rollen ohne Abstriche zu besetzen in der Lage ist. Überhaupt zeigt der Abend die Vielfalt des Trierer Ensembles, mit Sängern, die exzellente Schauspieler sind (Evelyn Czesla, Eva Maria Günschmann und Silvia Lefringhausen, Vera Ilieva, Jürgen Orelly, Peter Koppelmann, Eric Rieger), Schauspielern, die singen können (Sabine Brandauer als komische Heiratsvermittlerin Jente), Tänzern, die für Tempo sorgen, einem mitspielenden Orchestermusiker (Andras Magyar als Fiedler) und vielen weiteren engagierten Akteuren. Nicht zu vergessen die sympathisch-lebensnahe Golde von Gast-Sängerin Dunja Rajter, die sich nahtlos ins Ensemble integriert.

Zum Schluss gibt's ausgiebigen Beifall



Und dann natürlich Pavel Czekalas differenziert gespielter Milchmann Tevje. Ein uneitler Hauptdarsteller, der sich nicht vor die Rolle drängt, der "Wenn ich einmal reich wär" im Piano singt, der in all seinem Witz doch immer Melancholie mitschwingen lässt. Der augenzwinkernde Toleranz praktiziert, aber auch seine Grenzen erfährt im Konflikt zwischen der Tradition und dem Aufbruchswillen seiner Töchter, dem er sich nicht in den Weg stellen kann - und letzlich auch nicht will.

Zum Schluss, nach knapp drei Stunden und einem Moment der Besinnung, der verdiente ausgiebige Beifall.

UMfrage

Einstimmiges Fazit: Gelungen!

Martin Grasteit, Koblenz: "Der Weg aus Koblenz hat sich gelohnt. Eine geschlossene Leistung aller Akteure. Einfach stimmig." Amadeus Schnapka, Ommersheim: "Ich bin selber überrascht, dass mir ,Anatevka' so gut gefallen hat. Das Stück stellt Fragen - ein durchaus interessanter Aspekt." Lisa Trierweiler, Gusterath: "Ich kenne ,Anatevka' als Film. Da habe ich mich richtig gefreut auf das Theater Trier. Ein tolles Bild mit vielen Darstellern auf der Bühne. Sehr stimmungsvoll." Markus Reis, Worms: "Eine schöne Veranstaltung und rundum gelungen. Das Ensemble ist stark. Und Dunja Rajters Rolle hat gepasst." Umfrage/Fotos (4): Ludwig Hoff

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