Das Publikum sieht rot

BREGENZ. Verdis "Troubadour" in einer Ölraffinerie: Mit diesem gewagten Konzept sind die Bregenzer Festspiele in ihre neue Spielzeit gestartet. 7000 Premierenbesucher bejubelten die Produktion, die in diesem und dem kommenden Sommer fast eine halbe Million Zuschauer an die Seebühne locken soll.

Bis zu 27 Meter ragt das rote Monstrum in den Abendhimmel über dem Bodensee. Schornsteine, aus denen Rauch und Flammen aufsteigen, riesige Silos, brüchige Röhren, endlose Treppen. Überall rostige Ölfässer, wirklich: überall. Stünde eine solche Industrieanlage tatsächlich am Bodensee, man würde ihr aus Gründen der Imagepflege augenblicklich mit Abrissverfügungen zu Leibe rücken.Wer Öl hat, hat die Macht

Aber an dieser kunstvoll-hässlichen Raffinerie von Bühnenbildner Paul Steinberg, virtuos beleuchtet von Patrick Woodroffe, hat man mühsam ein ganzes Jahr lang gebaut. Sie liefert den Kern für das Regie-Konzept von Robert Carsen. Denn sein Graf Luna ist kein mittelalterlicher Adliger auf seiner Trutzburg, sondern der Chef einer Ölraffinerie, die nicht von ungefähr mit ihren hohen Zinnen und unüberwindlichen Mauern an eine gut gehütete Festung erinnert. Wer das Öl hat, hat die Macht. Und um Macht geht es, im Verdi'schen Original wie in dieser stellenweise erstaunlich aktuellen Interpretation. Um Macht, um Liebe, um Rache, um Tod. Dass die Handlung um zwei Brüder (der als Zigeuner herumziehende Troubadour Manrico und der nicht nur an Einfluss reiche Graf Luna), die nichts voneinander wissen und sich bis aufs Messer bekämpfen, bisweilen etwas konfus erscheint, hält man der Oper seit ihrem Entstehen vor 150 Jahren vor. Carsen hält mit kräftigen politischen Pinselstrichen dagegen. Die Zigeuner, die im öligen Uferschlick in den Eingeweiden des Industrie-Molochs leben, sind die Verlierer der Globalisierung. Wenn sie wie Nomaden über die wogende See (in Bregenz gilt das im Wortsinn) zur Wohlstand verheißenden Öl-Quelle ziehen, zieht man dort binnen Sekunden eine gigantische Schutzmauer hoch. Der Regisseur lässt die wütenden Menschen im Takt des Zigeunerchors an die Mauer schlagen - eine Szene von beklemmender, ans Herz gehender Intensität. Leider passt das Konzept nicht immer so gut. Dass Verdi eine Szene komponiert hat, in der die von Manrico und Luna gleichermaßen begehrte Leonora ins Kloster geht, lässt sich mit dem Ort des Geschehens schwerlich in Einklang bringen. Aber das mächtige Einheitsbühnenbild erzwingt, dass die Nonnen ihre Prozession auf der Ölraffinerie abhalten. Es gibt eine Fülle solcher Halbheiten und Inkonsequenzen, die verhindern, dass aus einer faszinierenden Idee letztlich der ganz große Wurf wird. Und doch funktioniert einmal mehr das "Erlebnis Bregenz". Es gelingt, auf der gigantischen Spielfläche Momente der Intimität und Bilder der Einsamkeit zu schaffen. Was auch damit zu tun hat, dass exzellente Sänger und Darsteller zur Verfügung stehen. Sondra Radvanowsky singt die große Arie der Leonora mit einer Innigkeit, die vergessen lässt, dass außer dem Autor noch 6999 weitere Menschen den Atem anhalten. Der zum Frankfurter Ensemble gehörende Bariton Zeljko Lucic brilliert als kraftvoll-kultivierter, keineswegs den Bilderbuch-Bösewicht abgebender Graf Luna. Larissa Diadkova verfügt als Zigeunerin Azucena über eine mächtige, bisweilen etwas grob zwischen höheren und tieferen Lagen umschaltende Mezzo-Stimme. Fabio Luisi dirigiert die Wiener Symphoniker mit zupackenden Tempi und manch fein ausgearbeiteter Nuance. In den Ensemble-Szenen geht es trotzdem manchmal drunter und drüber. Dem Publikum macht das wenig. Es blickt immer wieder erstaunt auf die überall emporlodernden Flammen, die auf der Bühne vorfahrenden Autos, die zahlreichen "special effects", die vorzüglich choreographierten, die Handlung nach vorn treibenden Kampfszenen. Am Ende, nach pausenlosen 140 Minuten, reichlich Beifall und ein letzter Blick auf die im Dunkeln noch imposantere Szenerie. Bregenz wird auch mit dem "Troubadour" wieder Zuschauerrekorde brechen. Weitere Vorstellungen bis zum 21. August. Tickets: 0043-55744076 oder www.bregenzerfestspiele.com

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort