Das Volk will belogen werden

Warum ein ehrlicher Wahlkampf in Deutschland nicht möglich ist – Ein skeptisches Fazit

Vom Ende her betrachtet, ist man fast dankbar dafür, dass der Bundestagswahlkampf 2005 die öffentliche Aufmerksamkeit ferienbedingt nur wenige Wochen in Anspruch nehmen konnte. Je ernster die Lage, desto mehr Bluff, je größer der Handlungsbedarf, desto mehr Show, je nötiger die Wahrheit, desto mehr Nebelkerzen: So könnte man das Fazit des Spektakels ziehen.Dabei sollte es die wichtigste Richtungsentscheidung der Nachkriegszeit (Merkel) oder mindestens der Entscheidungskampf gegen die Spaltung der Gesellschaft (Schröder) werden - drunter tut es niemand mehr. Ein Wettbewerb der Ideen und Konzepte, eine gesellschaftliche Debatte um Zukunftsmodelle: Diese Funktion ist dem Wahlkampf - wenn er sie denn jemals hatte - abhanden gekommen.

Dazu passt die gnadenlose Ritualisierung in Form von Krönungs-Messen, bei denen nur noch die fehlenden Luftballons einen Unterschied zu amerikanischen Vorbildern erkennen lassen. Gerhard Schröder hat das vor Jahren begonnen und damit den altbackenen Helmut Kohl besiegt. Jetzt versucht es Angela Merkel mit einem Show-Overkill, der auch vor plakatschwenkenden, wie gedopt in jede Kamera grinsenden und winkenden Cheerleadern nicht Halt macht.

Dazu passt auch das groteske Fernseh-Duell. Vier Interviewer stellen abwechselnd vorgestanzte Fragen, zu denen die Kandidaten vorgestanzte, mit Medien-Trainern sorgfältig einstudierte Antworten herunterleiern, die jedes Risiko ausschließen, dass sie irgendetwas enthalten, was irgendeiner Wähler-Zielgruppe auf die Füße treten könnte. Eine Armada von Journalisten und Experten analysiert den Affentanz, als wäre es eine Theateraufführung oder ein Fußballspiel, und das Publikum an den Bildschirmen vergibt seine Gunst nach der B-Note. Wer die bessere Attitüde zeigt, punktet - für die Inhalte interessiert sich kein Mensch mehr.

Verbale Entgleisungen als Strategie

Die Kehrseite der personellen Fokussierung auf die Stars an der Spitze ist ein zunehmend verächtlicherer Umgang mit dem jeweiligen Gegner. "Lügner", "Betrüger", "eiskalt", "herzlos": Die Entgleisungen sind nicht mehr, wie früher, Ausrutscher, sondern Strategie. Gegenüber Oskar Lafontaine erreichte die menschliche Abqualifizierung neue Dimensionen. Nicht, dass er einem leidtun müsste; dafür weiß er zu gut, wie man austeilt. Aber was bleibt von politischer Kultur, wenn über die Urlaubsorte, Geldbeutel und Essgewohnheiten eines Politikers mehr geredet wird als über sein Programm?

Noch fataler in den Folgewirkungen wird der Umgang mit Paul Kirchhof sein. Nicht, weil man sich mit den wahrlich diskussionsbedürftigen Thesen des Finanzexperten auseinander gesetzt hätte. Sondern wegen der latenten Intellektuellenfeindlichkeit, die skrupellos mobilisiert wurde - nicht nur von Schröder und Fischer, sondern auch von Stoiber und Wulff. Und wegen der allseits spürbaren Abneigung der politischen Klasse gegen kompetente Quereinsteiger - die das Land doch so dringend braucht. Die Erfahrungen des "Professors aus Heidelberg" werden Wissenschaftler, Intellektuelle und Wirtschaftsleute auf Jahre von politischem Engagement abschrecken.

Überhaupt Kirchhof. Sein Auftreten bedeutete den plötzlichen Einbruch der Realität in die Fiktion des Wahlkampfes. Dabei steht er im Prinzip nur für das, was - außer bei Gysis Linken - in den letzten Jahren Konsens innerhalb der Parteien war: die Notwendigkeit einer massiven Steuervereinfachung, der konsequente Abbau von Subventionen, die Entlastung von Bürgern und Wirtschaft. Das hätten, zumindest vor Jahresfrist, auch noch Clement (SPD), Merz (CDU), Göring-Eckardt (Grüne) oder Brüderle (FDP) unterschrieben. Nur dass der Wissenschaftler Kirchhof in zahllosen Publikationen minutiös aufgelistet hatte, was das für praktische Konsequenzen hat, während die Politiker stets so unverbindlich blieben, dass ihnen keiner einen Strick daraus drehen konnte.

Nun ahnt das Wahlvolk dank Kirchhof, was tatsächlich ins Haus steht, wenn man Modernisierung ernst meint. (Gäbe es eine ähnlich schonungslose Ansage für die Rentenpolitik, der Aufschrei wäre noch viel lauter). Sofort sitzt halb Deutschland auf dem Sofa und rechnet. Wenn überhaupt. Die meisten brauchen gar keine Zahlen, es reicht die Angst, man könnte am Ende schlechter dastehen als vorher, schon klammern sich alle wie Ertrinkende an das Bestehende. Die einzige Reform, die in Deutschland mehrheitsfähig wäre, ist eine, bei der die Bürger nachher mehr Geld in der Tasche haben als vorher, die Wirtschaft entlastet wird und der Staat seine Einnahmen vergrößert. Nur dass eine solche Reform nicht mit den seit Adam Riese bekannten Rechenarten darstellbar ist.

Und die Politik? Sie übt den Salto rückwärts. Die CDU-Ministerpräsidenten, um den Erhalt ihrer föderalen Pfründe besorgt, lassen ihre risikobereite Kanzlerkandidatin im Regen stehen. Die SPD erschlägt mit dem Neid-Hammer jede Sachdiskussion, wohlwissend, dass ihre suggestive Versicherung an die Wähler, man werde die Besitzstände schon irgendwie erhalten, eine Halbwertszeit von maximal zwei Wochen nach der Wahl hat. Nicht, weil Sozis gerne schwindeln, sondern weil sie gelernt haben, dass die Wähler die Wahrheit gar nicht hören wollen.

Das Land wird ärmer, gemessen an anderen

Die Wahrheit ist: Die Deutschen werden nicht daran vorbeikommen, dass sie insgesamt ihre Ansprüche zurückschrauben. Das Land wird ärmer werden, gemessen an anderen. Die demographische Entwicklung wird die Sozialsysteme mit ihren bisherigen Standards pulverisieren. Die globalisierte Weltwirtschaft bringt einen harten Wettbewerb mit hungrigen, aufstrebenden, preiswert und gut arbeitenden Volkswirtschaften. Der Glaube der Linken, man müsse nur die Reichen schröpfen und alles werde gut, wird dabei genau so an der Realität zerschellen wie das neoliberale Credo, der Staat müsse sich nur zurückziehen, dann regle der Markt das schon selbst. Man wird Wachstum brauchen, so viel wie möglich, um überhaupt Handlungsfähigkeit zu schaffen. Und man wird trotz klammer Kassen viel Geld in die Bereiche Bildung und Familie umschichten müssen, um Konkurrenzfähigkeit zu schaffen. Und dieses Geld wird man irgendwem auch wegnehmen müssen. Aber was man auch tut: Es wird nicht reichen, um einfach so weiterzumachen wie die letzten, schönen 60 Jahre.

Ein Horror-Szenario? Wieso, Politik ist doch kein Schönwettergeschäft. Das wäre doch genau die Aufgabe für die Regierung, die nach der Wahl am Sonntag amtiert: Ein Konzept zu entwickeln, wie man diese Gesellschaft neu organisiert in Zeiten der Beschränkung. Zum Beispiel durch Entbürokratisierung, Vereinfachen von Standards, Ermunterung von Innovationen. Aber auch durch eine neu formierte Solidargemeinschaft, die nicht nur darauf beruht, dass Zuwächse zur Verfügung stehen, die verteilt werden können. Und die bei notwendigen Reduzierungen die Menschen entlang ihrer Möglichkeiten belastet.

Wer immer gewählt wird: Er muss ab Montag damit anfangen. Und er muss den Bürgern das sagen, was er ihnen im Wahlkampf vorenthalten hat: Die Wahrheit.Dieter Lintz

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