Das unvergessliche Ohrenzwirbeln

PRÜM. In der Karolingerhalle las Ralph Giordano am Freitag aus seinem Buch "Sizilien! Sizilien! Eine Heimkehr." Der heute 81-jährige erfolgreiche deutsche Schriftsteller zeichnet darin ein vielschichtiges Bild der Mittelmeerinsel, von der sein Großvater stammt.

Nein, eine Diskussions- und Fragerunde will Ralph Giordano nach seiner Lesung in Prüm nicht haben. Das Gehörte müsse so stehenbleiben und wirken, sagt der feingliedrige alte Mann lächelnd und streicht sich schwungvoll eine weiße, volle Strähne aus dem Gesicht. Im Gegensatz zu seinen kritischen Werken über die deutsche Vergangenheit dürfe bei diesem Buch ja wohl auch kein Diskussionsbedarf bestehen. Und niemand im Publikum scheint traurig darüber zu sein, denn zu bewegend auf der einen, zu formvollendet auf der anderen Seite waren die Ausschnitte aus Ralph Giordanos "Heimkehr" nach Sizilien. "Zitschilia! Zitschilia!", hatte Großvater Rocco immer wehmütig gemurmelt, wenn der vierjährige Ralph in der Hamburger Wohnung auf dem Schoß des geliebten Opas saß und sich von ihm die Ohrläppchen zwirbeln ließ. Diese Laute blieben dem kleinen Ralph lange unverständlich, "bis ich, 1929 in die Schule gekommen und geographisch bald besser bewandert, die wimmernd hervorgestoßene Klage endlich identifizieren konnte mit dem Namen einer Insel im Mittelmeer". Unzählige Male schon hat Ralph Giordano die Geschichte vom Zwirbeln der Ohrläppchen erzählt in seinem Leben, doch immer noch scheint sie den Mann, der längst selbst im Großvater-Alter ist, zu berühren. Mit wacher, deutlicher Stimme und fast zwei Stunden lang im Stehen liest er Ausschnitte aus seinem Buch über eine innere Heimkehr. Seit dem Tod des Großvaters im Jahr 1930 war Sizilien eine unbestimmte Sehnsucht für Ralph Giordano - genau, wie er Opa Rocco schmerzlich vermisste, einen charismatischen Mann, einst erfolgreicher Dirigent eines symphonischen Blasorchesters. 1923 geboren, war Ralph Giordano im Jahr 1973 das erste Mal in dem Ort, aus dem der Großvater stammte. Als mittlerweile weit gereister und erfolgreicher Journalist macht er beim Dreh eines Dokumentarfilms einen Abstecher nach Riesi. Er hört das Schlagen der Kirchturmuhr, von der der Großvater immer erzählt hat, und sieht den weiß-blauen Innenraum der "chiesa", die er aus den Erzählungen kennt. Doch das Überwältigendste ist die Reaktion der Einwohner, als Giordano offenbart, dass sein Großvater "ein Sohn der Stadt ist": Plötzlich starten alle eine hektische Recherche nach den Wurzeln der Familie Giordanos. Jahre später - von irgendwelchen Recherche-Erfolgen hatte Giordano nie wieder etwas gehört - kommt der mittlerweile 77-jährige Ralph Giordano wieder zurück nach Riesi. Er findet im Archiv des Rathauses die Geburtsurkunde, spricht mit einer 95-Jährigen, die den Großvater aus Erzählungen kannte, und wird zum Ehrenbürger der Stadt ernannt. Ohne Pathos, mit feinen, wohl gesetzten Worten, doch in kräftigen, lebendigen Farben beschreibt Giordano seine Reise in die Vergangenheit. Für die Lesung hat er aus dem Buch, in dem sich viel findet über Kultur und Lebensart, Geschichte und Politik Siziliens, Teile herausgesucht, die in sich ein stimmiges Ganzes ergeben: von der Fahrt mit der Fähre von Genua nach Palermo, bei der er die Silhouette der Berge auftauchen sieht, über die vielen Erlebnisse bei der Suche nach Opa Roccos Kindheit und Jugend bis zu dem Moment, in dem die Bergspitzen Siziliens auf dem Rückweg mit der Fähre aus Giordanos Blickfeld verschwinden - und er sich fragt, ob er jemals zurück kommen wird.

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