Der Kreuzweg wird zum Show-Spektakel

TRIER. Mehr als 30 Jahre nach seiner Entstehung erweist sich Andrew Lloyd Webbers "Jesus Christ Superstar" in der neuen Produktion des Trierer Theaters als ein immer noch packendes Stück Musiktheater.

Manchmal sagt der Moment nach dem Schließen des Vorhangs Genaueres über einen Theaterabend aus, als es eine Kritik je könnte. Als am Samstagabend bei der Premiere von "Jesus Christ Superstar" das Stück zu Ende ist, herrscht Schweigen im Saal. Nicht zwei, nicht fünf, mehr als zehn Sekunden dauert die Stille. Es ist nicht Ergriffenheit, die da herrscht, eher Erstaunen. Erstaunen, dass mit dem soeben gehörten, unspektakulären, langgezogenen, leisen, traurigen, leicht dissonanten Ton das Stück so einfach zu Ende sein soll.Man braucht einige Zeit, um sich frei zu spielen

Als man es begriffen hat, setzt ein Jubel ein, wie man ihn selbst beim beifallfreudigen Trierer Premierenpublikum nicht alle Tage hört. Nach wenigen Sekunden geht er in anhaltendes, schnelles Stakkato-Klatschen über, das minutenlang dauert. Was ist da passiert? Der Start gut zwei Stunden vorher war gar nicht so verheißungsvoll. Der klangliche Mix aus Rockband und städtischem Orchester klingt anfangs flach, die Zuschauer haben - sofern nicht durch Lektüre der Inhaltsangabe vorbereitet - Mühe, in die Handlung hineinzufinden, und auf der Bühne braucht man einige Zeit, um sich frei zu spielen. Doch dann beginnt das Konzept von Regisseur Johannes Reitmeier, seine Faszination zu entfalten. Noch niemand hat in Trier die Möglichkeiten der Bühnentechnik annähernd so geschickt genutzt wie der Kaiserslauterner Intendant. Eine große, hölzerne Tribüne (Bühnenbild: Thomas Dörfler) dreht sich und liefert je nach Bedarf als Treppe, Aufmarschplatz, Podium oder Richtstätte eine stimmungsvolle Kulisse. Die Hohepriester schweben vom Himmel, blitzschnell verwandelt sich die reale Szene in eine Traumszenerie mit optisch opulenten (Kostüme: Anke Drewes) Fantasie-Sequenzen. Der Chor, von der Regie geschickt bewegt, spielt sich die Seele aus dem Leib, selbst kleinste Rollen wirken sorgfältig gestaltet. Das Ballett ist sinnvoll in die Handlung integriert, mit einem Wort: Die handwerkliche Basis stimmt. Auf diesem soliden Fundament entwickeln Regisseur Reitmeier und Dirigent István Dénes ihre Interpretation aus einem Guss, die sich musikalisch wie szenisch durch die Abwesenheit von jeglichem Pathos auszeichnet. Die Geschichte, die da erzählt wird, ist eigentlich ganz einfach: Von Jesus, der gar kein Messias sein will und in eine Rolle gedrängt wird, die er sich selbst kaum erklären kann. Von Judas, der verbal-radikal die Revolution predigt, aber seinen Freund letztlich aus Eifersucht verrät. Von Simon Zealotes (Markus Angenvorth), dem Fundi, der den Kampf um Veränderung mit der Waffe führen will, und von Simon Petrus (Fernando Gelaf), dem Feigling, der, als es ernst wird, von allem nichts gewusst hat. Die "Gegenseite" besteht konsequent aus lächerlichen Figuren, die von den Darstellern lustvoll überzeichnet werden: Pilatus (Peter Singer), Herodes (Hans-Peter Leu), die Hohepriester (Juri Zinovenko, Klaus-Michael Nix, Nico Wouterse): lauter genüssliche, skurrile Studien. Religion und Mystik spielen keine große Rolle, "Jesus Christ" ist kein religiöses Stück, jedenfalls nicht im engeren Sinn. Reitmeier lässt es in seiner Entstehungszeit spielen, Jesus und seine Entourage sehen aus wie eine Alt-68er-Hippietruppe. Aber die aktuellen Seitenhiebe fehlen nicht: Der Tempel, aus dem Jesus die Händler wirft, ist ein moderner Konsumtempel mit aufdringlicher Weihnachsdekoration, die Verhaftung, der folgende Prozess und der Kreuzweg geraten zum Medien-Showspektakel mit allgegenwärtiger Kamera und Krisenreporterin (Angelika Schmid) - Reality-TV lässt grüßen. Das kommt ohne Zeigefinger und triefige Moral daher, so wie die Musik auf Tränendrüsen-Drücken und Streicher-Schmachten verzichtet. István Dénes, das Orche-ster und die exzellente Band (Thomas Bracht, Christoph Haupers, Rainer Breiling, Peter Hertel, Fred Boden) lassen ahnen, welches Potenzial der junge Lloyd Webber hatte, bevor er zur Westend-Fließband-Produktion überging. Soul, Hardrock - sogar, in der Kreuzigungsszene -, Psychedelic Marke Pink Floyd: Man begreift, warum dieses Stück vor dreißig Jahren als innovativ und grenzüberschreitend galt.Man lässt sich ein auf ungewohnte Töne

Aber das allein erklärt nicht die Begeisterung des Publikums. Da mussten schon noch drei glänzende Darsteller und Sänger für die Hauptrollen hinzukommen. Andy Kuntz, Sänger der Lauterer Rock-Legende "Vandenplas" (und, für Insider, Cousin des Fußballers Stefan Kuntz) ist ein zerrissener, mit kräftiger Rock-Röhre ausgestatteter Judas. Anna-Caroline Stein überzeugt als vorzüglich singende, anrührende Maria Magdalena. Und Peter Koppelmann in der Titelrolle schafft - über seine für einen Sänger außergewöhnliche szenische Gestaltungsfähigkeit hinaus - das Kunststück, nicht wie ein Opernsänger zu klingen, der sich ins Musical verirrt hat. Er riskiert es, "dreckig" zu singen, so wie sich das bei Rockmusik gehört, er lässt sich ein auf die ungewohnten Töne - und gewinnt. So wie das Theater wohl insgesamt mit dieser Produktion. Das rechtzeitige Reservieren von Karten dürfte sich empfehlen. Die nächsten Aufführungen: 19. 3.; 4., 12., 17., 25., 28. 4.; Karten: 0651/718-1818.

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