Die Dummheit der Krieger

LUXEMBURG. Euripides hat 88 Stücke geschrieben; siebzehn sind vollständig erhalten. Aus den restlichen, nur fragmentarisch überlieferten Werken hat Hansgünther Heyme einen Euripides-Abend zusammengestellt und sinnigerweise "Scherben" genannt.

 Helden und Tragöden auf der Durchreise: Szene aus "Scherben" mit Marina Matthias (links) und Elke Petri (Mitte).Foto: Ros Ribas

Helden und Tragöden auf der Durchreise: Szene aus "Scherben" mit Marina Matthias (links) und Elke Petri (Mitte).Foto: Ros Ribas

Kerzen in Papiertüten erhellen flackernd den Weg zur Spielstätte, den "Ateliers du Théâtre National" im Luxemburger Stadtteil Belair. Das ist auch nötig, denn auf der Suche nach dem neuen Spielort des TNL fährt man ahnungslos und noch lange nicht Parkplatz suchend an der Nummer 166 der "Avenue du X Septembre" vorbei.Dort befindet sich nämlich die karge Fabrikhalle, in der Hansgünther Heyme, der Ausstatter, eine nicht minder karge Szenerie aufgebaut hat: ein trauriges Bis-tro mit tristen Tischen und Stühlen, einem stockfleckigen Spiegel, wandhoch und alle Personen und Handlungen doppelnd. Ein Wartesaal vielleicht, wie die Koffer rechts und links des Podests vermuten lassen. In diesem Ambiente, wo Zeit eine andere Qualität gewinnt als anderswo, hat Hansgünther Heyme, der Regisseur, "Scherben" zusammengekittet. Bruch- und Fundstücke aus dem Werk Euripides‘, Miniaturszenen undDialog- fragmente aus sechs Dramen. Und wie bei einem antiken Tongefäß, dessen Einzelteile von kunstfertigen Archäologen geschickt anein-andergeleimt werden, sieht man auch hier kaum die feinen Bruchlinien, merkt die Klebestellen höchstens an einem Licht- oder am Standortwechsel der Schauspieler.L

autes Wehgeschrei,wortloses LeidEs geht um Tod in den Szenen, ums Sterben, um sinnloses Sterben vor allem, ums Opfer bringen und um Heldenmut. Um die Torheit des Krieges und die Dummheit der Krieger. Ein sehr aktuelles Stück also. Es geht auch um Trauer, um Wehgeschrei, und es wird viel gelitten. Gefühle werden schonungslos bloß gelegt, unendliches Leid wird hinausgebrüllt. Die ganze Wucht des antiken Dramas ist in knapp 90 Minuten Spieldauer konzentriert.Eine tour de force für die Schauspieler: Elke Petri als mehrfach rasende Furie, Marina Matthias, die als fälschlich angeklagte Kindsmörderin Rotz und Wasser (wirklich!) heult, Marco Lorenzini als jammernder Vater, nachdem er seine Tochter geopfert hat. Einen verschmitzten Zungenschlag bringt Peter Kaghanovitch als fast Verführter ins Spiel, Wolfgang Robert die altersweisen Töne. Und inmitten von Blut, Schweiß und Tränen gibt es eine zart gesponnene Liebesgeschichte zwischen Ariadne und Theseus. Anabelle Lachette und Vladimir Pavic spielen das antike Liebespaar, Urahnen von Romeo und Julia sozusagen, denn in beiden Fällen scheitert die Liebe am Hass. Eine Ensembleleistung, für die die Bravos am Ende mehr als gerechtfertigt waren.Das Bemerkenswerte an dieser Inszenierung - und gleichzeitig ihr größtes Verdienst - sind die Brückenschläge zwischen Antike und Moderne. Die Erkenntnis, was heutiges Theater den ollen Griechen verdankt, ist immer irgendwo im Hinterkopf gewesen seit der humanistischen Schulquälerei, aber dann auch ganz schnell weggeschoben worden. Hier wird sie schlaglichtartig sinnfällig gemacht. Heyme bietet pralllebendiges Lehr- und Lerntheater - effizienter als ein Jahr Griechisch-Unterricht.Sicher, "Scherben" ist sehr akademisch, 95 Prozent Bildung und fünf Prozent Entertainment (in unseren Tagen eine geradezu selbstmörderische Mischung), doch die und das Antike erscheint erstaunlich modern. Was damals weh tat, schmerzt heute nicht minder. Nur, dass unsere Ahnen mit der Hand getötet haben und nicht per Knopfdruck. So, wie Heyme inszeniert und choreografiert, mag das Agitations- theater der 1920er Jahre von Erwin Piscator, dessen Assistent der scheidende Ruhrfestspielleiter war, einst ausgesehen und gewirkt haben. Die Kostüme jedenfalls erinnern an jene Dekade, als hierzulande auf dem Vulkan getanzt wurde und ein Weltenbrand sich ankündigte.Dass die griechischen Chöre geklungen haben wie Hanns Eisler und Kurt Weill, ist eher weniger wahrscheinlich. Von den beiden jedenfalls hat Alfons Nowacki sich für seine raffinierten "Scherben"-Arrangements beeinflussen lassen, die das Septett mit Hochachtung einfordernder Präzision vorträgt.Was Tucholsky und Euripides verbindet

Und ein paar Erkenntnisse über den plagiatorischen Einfluss der Antike auf die Neuzeit gibt‘s bei "Scherben" obendrein. Am besten wäre der Mensch nicht geboren, sagt Thoas im "Hypsipyle"-Fragment. Sieh mal an. Hatte man diesen Satz bisher Tucholsky zugeschrieben, muss man den Satiriker nun des Abkupferns zeihen: Die Erkenntnis stammt also von Euripides. Wenigstens hat "Tucho" ihn um ein weiteres Bonmot ergänzt: "Aber wem passiert das schon?"Noch ein Brückenschlag: So verklammern sich auch mühelos Antike und moderne Satire.Die nächsten Vorstellungen: 20., 21. und 22. März, Karteninformation 00352/26458870.

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