Die Hölle im Kopf des Dichters
SAARBRÜCKEN. Das Staatstheater Saarbrücken und sein Publikum pflegen die hausgemachten Musical-Eigenproduktionen stets so zu feiern, als habe man das Genre neu erfunden. Diesmal ist die Begeisterung berechtigt.
Der Ausgangspunkt ist genial: Der Teufel schließt einen Pakt mit dem verrückten Dichter Edgar Allen Poe, damit dessen Horror-Kopfgeburten ihm das Inventar für seine Hölle liefern. Denn die Hölle besteht aus Langeweile und Fantasielosigkeit, und erst Poes wirrer Verstand schafft das infernalische Mobiliar, mit dem der Satan sein Gewerbe effektvoll betreiben kann. Im Gegenzug macht er den Poeten, der im Irrenhaus vegetiert, zum populären Star. Natürlich gerät die Sache außer Kontrolle, Poe landet im Niemandsland zwischen Dichtung und Realität, am Ende muss er seine Kreaturen und auch sich selbst vernichten, um Schlimmeres zu verhindern. Das Libretto von Heinz-Rudolf Kunze erzählt diese Geschichte raffiniert, vielschichtig, aber jederzeit nachvollziehbar. Ein Genuss für Poe-Fans sind die vielen Anspielungen auf das Werk des amerikanischen Grusel-Meisters (1809-1849), aber man muss es nicht zwangsläufig kennen, um seinen Spaß zu haben. Die Story spielt mit philosophischen Motiven von "Faust" bis "Hoffmanns Erzählungen", und sie ist, nicht nur optisch, brandaktuell - angesichts einer Mediengesellschaft, bei der längst Teile der Realität Produkt von Fantasie und Marketing geworden sind. Das größte Kunststück sind Kunzes originelle deutsche Texte. Man muss nicht "Herz" auf "Schmerz" reimen, es geht auch mit "Obduktion" auf "Information". Von wenigen Songtexten abgesehen, bleibt die sprachliche Klischeekiste zu, und es geht weder abgehoben noch anbiedernd zu. Das kann in Deutschland sonst niemand, und wenn Kunze der Sprachwitz nicht ausgeht, dann darf sich Trier schon jetzt auf sein Antikenfestspiel-Musical "Quo vadis" 2005 freuen. Frank Nimsgern liefert den perfekten Soundtrack für das Grusical. Mal treiben er und seine Band mit kraftvollen Beats von Funk bis Techno die Handlung voran, mal lässt er sie mit hübschen, von einem stattlichen Orchester großzügig untermalten Balladen still stehen. Mal türmt sich der Klang zu fast sinfonischen Wogen auf, mal dominiert erdige Schlichtheit. Klar: Das ist, wie bei jedem guten Musical, ein Raubzug durch das Repertoire, und wer hinhört, wird mal der "Titanic", mal den Blues-Brothers begegnen. Aber das ist nicht billig abgekupfert, das hat Stil, und wenn Nimsgern in der Begleitmusik zu einem höllischen Schreckenskabinett die legendäre Poe-Interpretation von Alan Parsons Project kunstvoll anklingen lässt, dann fällt es schwer, auf den Stühlen sitzen zu bleiben. Zumal Bühnenbild (Detlev Beaujean) und Kostüme (Angela C. Schuett) weder Ideen noch Aufwand scheuen und das Auge mit imposanten, oft drastisch-grellen Bildern überwältigen. Und mit Christian von Götz verfügt Saarbrücken diesmal über einen Regisseur, der nicht am Papier der Vorlage klebt, der sich traut, eine eigene Welt zu kreieren und nicht vor dem mächtigen Duo Autor/Komponist zu verzagen. Die Besetzung lässt bis in die kleinsten Rollen hinein keine Wünsche offen. Vier superbe Hauptdarsteller - Darius Merstein-MacLeod als Teufel, Henrik Wager als Poe, Aino Laos und Peti van der Velde als weibliche Gegenparts - treiben das Publikum zu Beifallsstürmen. Die Sensation des Abends aber sind die 12 rundum broadwayreifen Tänzer, die man eigens für diese Produktion engagiert hat, mit der packenden Choreographie von Marvin A. Smith. Reihenweise gute Gründe für einen Besuch an der Saar. Aber Vorsicht: Es ist ratsam, sich Wochen und Monate im Voraus um die Tickets zu kümmern. Vorstellungen: 20., 28. November, 4., 10., 14., 19., 22., 30., 31. Dezember. Infos und Vorbestellung: 0800/3092400