Die Kinder in der Satellitenschüssel - ratlos

LUXEMBURG. Vor zwei Jahren wurde es beim Luxemburger Stückemarkt eingereicht; jetzt fand die Erstaufführung am Entdeckungsort statt: Guy Helmingers Drama "Venezuela".

Wenn das Stück beginnt, ist die Hauptperson schon tot. Umgekommen bei einer wahnwitzigen Mutprobe, genannt Trainsurfing: Man hängt sich an einen fahrenden Zug und hofft, den nächsten Bahnhof lebend zu erreichen. Todesgefahr und Geschwindigkeitsrausch als Ersatz für ein im Leerlauf dahindümpelndes Leben. Fraggel hat es nicht geschafft. Er ist abgerutscht und wurde von den Rädern zermalmt. Weil das einer aus der Clique nicht erfahren soll, verständigen sich seine Freunde auf eine barmherzige Lüge: Fraggel ist nach Ve- nezuela ausgewandert, denn dort fahren die Züge viel schneller, und das Trainsurfen erfordert noch mehr Mut. Das ist die Ausgangssituation von Guy Helmingers Jugenddrama "Venezuela", das die Österreicherin Anna Maria Krassnigg in den Ateliers des Luxemburger Nationaltheaters inzeniert hat. Andreas Lungenschmid baute ihr dafür ein symbolträchtiges Bühnenbild: eine Satellitenschüssel, deren Peilantenne nur undefinierbare Geräusche und unzusammenhängende Satzfetzen empfängt. Die Kommunikation mit dem Rest der Welt ist nicht möglich. Und kein Leben wächst nach: Dafür sorgt der intensives Aroma verbreitende Rindenmulch, der großzügig über die Spielfläche verteilt ist. Seltsame Namen haben die Leute, die sich für ihren Kumpel die fromme Lüge ausdenken: Flada, Olif, Kerm. Buch geht zur Schule, muss sich deshalb auch Klugscheiß titulieren lassen. Nur der Türke heißt Attila, aber den nennen sie, weil er eben Türke ist, Izmir. Und eine Sprache sprechen sie, die keiner sonst spricht: Das klingt von fern wie Jugendjargon, allerdings ohne dessen spezifische Wortschöpfungen, ist dafür von einer ziemlich skurrilen Syntax, in der vollständige Sätze Seltenheitswert haben. Merkwürdigerweise funktioniert dieser Kunstsprech (jedenfalls auf weite Strecken, nur manchmal wirkt er ein bisschen prätentiös). Für Trauer, Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit braucht man heute eben keine großen Worte mehr; und in der tristen Lakonie liegt auch viel skurriler Witz. Regisseurin Krassnigg drückt bei ihren Akteuren ordentlich aufs Tempo; es wird viel geklettert, gesprungen, gerannt, gerauft. Trotzdem zerrinnt die Aktion nicht zu Aktionismus, steckt dahinter doch stets ein Bewegungsdrang, vergleichbar mit dem eingesperrter Kreaturen, die gegen ihre Grenzen treten, ohne sie überwinden zu können.Irgendwo da draußen ist eine andere Welt

Kerm (Jens Ole Schmierer) zum Beispiel: Immer wieder erklimmt er affengleich die Antenne, richtet sie aus, versucht vergeblich, etwas mitzubekommen von der Welt, die irgendwo anders liegt. Daniel Kamen als Izmir gibt sich macho-mäßig großspurig und bedient damit sehr bewusst ein gängiges Vorurteil. Johannes Maile ("Buch") ist der Grüblerische dieser Aussätzigen, der von Anfang an nicht an das Funktionieren der Lüge glaubt und dennoch mitmacht - damit Olif nicht vollständig aus dem Ruder läft. Marc Baum spielt den Jungen, deutet dabei dessen Behinderung so dezent an, dass sie nie zur Peinlichkeit gerät - und erweist sich am Schluss doch als der Reifste, Vernünftigste und Desillusionierteste seiner Clique. Nina Gabriel schließlich ist Flada - großäugig, schnoddrig, komisch. Ihr rudimentäres Selbstbewusstsein wird immer wieder von einer gewissen Unterwürfigkeit den Jungs gegenüber verdrängt. Auch in den Randgbieten der Gesellschaft funktioniert die Steinzeithierarchie zwischen Männern und Frauen eben reibungslos. "Venezuela" berührt auf sehr intensive, dennoch beiläufige und - ja auch das - witzige Art einen recht schmerzhaften Nerv, und die junge Darstellerriege, obwohl streng genommen durch die Bank zehn Jahre zu alt für ihre Rollen, trifft den Ton dieser wieder einmal "lost generation" zwischen Resignation und Aufbegehren, zwischen Traurigkeit und Galgenhumor ziemlich punktgenau. Zwar stellt Guy Helminger im Programmheft die These auf, dass seine jugendlichen Helden noch nicht ganz um die Möglichkeit einer Zukunft betrogen seien. Die Inszenierung freilich widerspricht ihm. Das Stück endet mit der Frage "Was is‘ morgen?" Statt einer Antwort gibt‘s nur Dunkelheit. Die nächsten Aufführungen: 22., 23., 24., 25., 28. u. 29. April; Karten: 00352/26441270.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Vom erwischt werden
Vinyl der Woche: Love Is A Wonderful Thing – Michael Bolton Vom erwischt werden
Aus dem Ressort