Die Mutter aller Niederlagen

Waterloo · Im belgischen Städtchen Waterloo vor den Toren Brüssels wurde Napoleon Bonaparte am 18. Juni vor 200 Jahren entscheidend besiegt. Die Schlacht, der mit großem Pomp und viel Kanonendonner gedacht wird, hat Europa verändert und wirkt bis heute nach.

 Die Schlacht von Waterloo, die entscheidende Niederlage Napoleons gegen europäische Verbündete, wird 2010 in dem belgischen Ort nachgestellt. Zum 200. Jahrestag sind erneut Feiern und Schlachtgetümmel geplant. Foto: dpa

Die Schlacht von Waterloo, die entscheidende Niederlage Napoleons gegen europäische Verbündete, wird 2010 in dem belgischen Ort nachgestellt. Zum 200. Jahrestag sind erneut Feiern und Schlachtgetümmel geplant. Foto: dpa

Foto: Olivier Papegnies (g_kultur

Waterloo. Zwei Männer beugen sich über eine Karte von Waterloo und diskutieren über strategische Standorte und gute Nachschubwege. Die Schlacht steht kurz bevor. Wo soll die Frittenbude hin, wo der Bierstand? Die beiden Gastronomen sitzen im Café Wellington auf dem Gelände der Gedenkstätte und planen die Verköstigung Tausender Gäste, die an diesem Wochenende erwartet werden.
Denn am 18. Juni jährt sich die Schlacht von Waterloo zum 200. Mal - und es wird nicht weniger los sein als damals, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Belgiens Königspaar empfängt Royals aus Großbritannien und den Niederlanden sowie Vertreter Deutschlands, Frankreichs und der Europäischen Union. Die Nachfahren der drei beteiligten Feldherren Napoleon Bonaparte, Gebhard Leberecht von Blücher und Arthur Wellesley, besser bekannt als Duke of Wellington, reichen sich symbolisch die Hände. An den beiden Folgetagen stellen Marc van Meerbeek und weitere 6500 Laiendarsteller mit 300 Pferden und 100 Artilleriegeschützen die Kämpfe von einst nach. "Sich das vorzustellen ist schon spannend", sagt der belgische Polizist, "die Geschichte nachzuspielen aber ist nicht zu überbieten."
Beginn friedvoller Zeiten


Es ist eine Geschichte, die Europa verändert hat: Napoleon, der den Terror im nachrevolutionären Frankreich mit modernen Staatsstrukturen beendet, aber dafür einen imperialistischen Anspruch der Revolutionsidee begründet und Europa unterworfen hatte, war zwei Jahre zuvor in der Leipziger Völkerschlacht erstmals geschlagen worden (siehe Extra). Doch der nach Elba verbannte Kaiser kehrte zurück und versammelte auf seinem Weg vom Mittelmeer Gefolgsleute hinter sich.
Die Schlacht von Waterloo hat die Welt verändert. Gut zwei Jahrzehnte Krieg in Europa gingen zu Ende, mehr als fünf friedvolle folgten. Viele Grenzen von heute wurden damals gezogen. Vieles, wie Großbritanniens endgültiger Aufstieg zur Weltmacht, wirkt fort - und sei es nur, dass der Phantomschmerz des später verlorenen Empire die aktuelle Debatte um den EU-Austritt prägt. Vielleicht gäbe es ohne Waterloo auch keinen Streit über das TTIP-Abkommen: Ein gewisser David Ricardo hatte Geld auf einen britischen Sieg in Waterloo gesetzt und konnte sich fortan als reicher Mann ganz der politischen Ökonomie widmen. Zwei Jahre später, 1817, veröffentlichte Ricardo seine berühmte Freihandelstheorie.
Die Belgier haben zum Jahrestag ein neues Museum errichtet, das mit Karten, Kostümen, animierten Bildern und Filmen über den Gefechtsverlauf die Entscheidungsschlacht lebendig werden lässt. Wer zuvor auf dem als Friedensmahnmal errichteten Löwenhügel war, von dem aus eins der kleinsten Schlachtfelder der Geschichte überblickt wird, bekommt eine Ahnung, wie sich drei Armeen auf nur acht Quadratkilometern bekriegten.
Sein Waterloo erleben. Der Name der 30 000-Einwohner-Stadt südlich von Brüssel ist Inbegriff der Niederlage schlechthin geworden. Und das nicht erst, seit die schwedische Popgruppe Abba mit "Waterloo" 1974 den Eurovision Song Contest gewann. Seither weiß jeder: "Napoleon did surrender." Dabei verfügte der über mehr Männer, mehr Geschütze und mehr Genie als Wellington, der sich selbst stets als zweitbesten Militärstrategen hinter Napoleon sah. Der hatte Überraschungsmoment und taktischen Vorteil auf seiner Seite.
Noch vier Tage vor Waterloo ahnten die Gegner nichts von einem Angriff. Erst am 15. Juni erfuhr Wellington, dass Napoleons 125 000 Mann über Charleroi herangerückt waren, einen Keil zwischen die eigenen 95 000 Mann und jene 115 000 von Blücher getrieben hatten und die getrennten Armeen nun einzeln schlagen konnten. Berühmterweise ließ sich der Duke aber nicht davon abbringen, auf dem Brüsseler Ball der Duchess von Richmond ein Tänzchen zu wagen. Der Preis dafür war, dass Napoleon Blüchers Armee am Folgetag bei Quatre-Bras zum Rückzug zwang.
Wie es dennoch zur Mutter aller Niederlagen kommen konnte, fasziniert und beeinflusst das Denken bis heute. Im Zentrum der Überlegungen steht die Allianz Wellingtons und Blüchers. "Beide Befehlshaber wussten, dass ihre Armeen Napoleon nicht allein schlagen konnten", schreibt Autor Bernhard Cornwell: "Sie mussten ihre Kräfte bündeln, um zu siegen." Und sie konnten sich aufeinander verlassen.
Auf Bündnispartner ist Verlass


"Vertrauen in den Bündnispartner ist die große Lehre aus Waterloo", sagt Nato-Vizegeneralsekretär Jamie Shea: "So wie sich die baltischen Staaten heute darauf verlassen können, dass ihnen die Nato im Notfall beisteht, wusste Wellington, dass Blücher kommen würde." Für Militärs ist Waterloo eine Fundgrube. Carl von Clausewitz\' Standardwerk "Vom Kriege" von 1834 fußt entscheidend auf den Erkenntnissen aus Waterloo und den Gründen für Napoleons unerwartete Niederlage. Der Begriff "Nebel des Krieges", der die Unübersichtlichkeit des Kampfgeschehens meint, taucht darin erstmals auf.
Nato-Mann Shea zieht eine weitere aktuelle Parallele zu Napoleon, dem erst der umherirrende General Grouchy und dann der Überblick abhanden kam. Der aktuelle Ukraine-Konflikt, wo russische Truppen nicht als solche deklariert agieren und Propaganda eine große Rolle spielt, ist nicht weniger unübersichtlich: "Wir haben es mit hybrider Kriegführung zu tun, aber Waterloo mahnt uns, dass nur eine gute Lageerkennung zum Erfolg führt."
Londons Ex-Generalstabschef Lord Edwin Bramall hat Waterloo als "erste Nato-Operation" bezeichnet. Mehrere Staaten warfen ihr Militär zusammen, um der Bedrohung Herr zu werden - ohne Frankreich danach zu teilen oder zu demütigen. "Waterloo war letztlich der Ursprung des vereinten Europas", sagt Eckart Cuntz, Deutschlands Botschafter in Belgien, "dort wurde erkannt, dass wir zusammenarbeiten müssen."

Die Wunden von Waterloo sind dagegen auf der linken Rheinseite weiter spürbar, wo Napoleons gute Ideen zu Recht hochgehalten werden. Für Frankreich ist es deshalb nicht so einfach, an den Waterloo-Gedenkfeiern teilzunehmen. Die Organisation des Jubiläums gestaltete sich schwierig. Augenfällig wurde Europas unterschiedliche Erinnerungskultur, als die belgische Regierung zu Jahresanfang Zwei-Euro-Münzen zum 200-Jährigen prägen ließ. Paris intervenierte offiziell, warnte vor "feindseligen Reaktionen in Frankreich". Die Belgier mussten das Geld einschmelzen - noch ist unklar, welcher französische Vertreter zur Feier kommt.
Noch immer schmiegen sich Weizenfelder an die sanfte Anhöhe, von der aus Wellingtons Armee Napoleons Angriffe abwehrte. Nun sind dort Zuschauertribünen aufgebaut, für die Nachstellung der Schlacht. Quentin Debrauwere wäre gern dabei: "Der Kanonendonner weckt mich immer", erzählt der 23-Jährige. Er ärgert sich, dass die Tickets 80 Euro kosten. Doch Belgien will mit dem pompösen Event etwas nachholen, weil der 100. Jahrestag nicht gefeiert werden konnte. 1915 war das Land ein Schlachtfeld - im Ersten Weltkrieg.Extra

1799: Napoleon übernimmt im nachrevolutionären Chaos per Staatsstreich die Macht und wird Erster Konsul. 1804 krönt er sich zum Kaiser. 1805: Im dritten Koalitionskrieg besiegt Napoleon bei Austerlitz Russen und Österreicher. Er gründet den "Rheinbund". Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation besteht nicht mehr. Preußen erklärt Napoleon den Krieg und wird bei Jena geschlagen. 1813: Völkerschlacht bei Leipzig, in der Napoleon unterliegt. Er wird auf die Mittelmeerinsel Elba verbannt. 1814-1815: Wiener Kongress ordnet Europa neu. 1. März 1815: Mit Napoleons Rückkehr aus Elba beginnt seine Herrschaft der 100 Tage. Am 22. Juni tritt er, vier Tage nach Waterloo, ab. Nach St. Helena verbannt, stirbt er am 5. Mai 1821. zied

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