Die Rebellen sind müde

"Ihr kriegt uns hier nicht raus", sangen Ton Steine Scherben Anfang der 70er und ließen ihren Worten Taten folgen. Sie und tausende andere besetzten Häuser und forderten das Nachkriegsdeutschland heraus. Im Exhaus diskutierten Pop-Experten darüber, wo die subversive Kraft der Popmusik heute geblieben ist.

Trier. (fgg) Ist Popmusik noch rebellisch? Transportiert sie noch (linke) Botschaften? Wolfgang Seidel, Schlagzeuger der legendären Band Ton Steine Scherben in ihrer kämpferischen Frühphase 1970/71, wird da den Kopf schütteln. Er beschreibt das Zurückweichen von Teilen der Berliner Band und ihrer Fangemeinde. Damals, als aus markigen Sprüchen ernst wurde: "Wenn man im Theater zum Streik aufruft, ist das Kunst und wird beklatscht. Tut man das vor der Fabrik, ist es Politik, und dann kommt die Polizei", sagt Seidel, ein Gründungsmitglied der Band, deren plakative Songtitel wie "Keine Macht für niemand" oder "Macht kaputt, was euch kaputt macht" zum Allgemeingut geworden sind. Das ist lange her. Die Ereignisse des "deutschen Herbstes" hatten ein übriges getan, um Klassenkampf und Systemkritik grundlegend aus der populären Musik zu tilgen. Auch die "Scherben" wurden zahmer, ihre Aktionen nur noch symbolisch. Zuletzt hatten Musikverlag und die Erbengemeinschaft des verstorbenen Scherben-Frontmanns und AntiKapitalisten Rio Reiser nichts dagegen, dessen Musik an einen Elektronikkonzern "auszuleihen". Der ließ in einer Werbekampagne eine "König von Deutschland"-Version von einem Schwein singen. Nicht alles ist verlorengegangen, findet Martin Büsser. Der Poptheoretiker zieht eine scharfe Trennlinie zwischen Mainstream und Independent-Szene. Ersterer setze, zunehmend vergeblich, nur noch auf die immergleich wiedergekäuten Erfolgsrezepte. Mit Castingbands verneinte man gar offen jede künstlerische Authentizität. Dagegen sieht Büsser aber auch Chancen durch eine neue Art des Musikmarketings, wie sie vor allem das Internet ermögliche. Dort fände sich in Nischen auch Platz für emanzipatorische, progressive Künstler.Die Autorin Sonja Eismann befasst sich mit dem Frauenbild im aktuellen Pop und sieht dieses immer noch mit stereotypen Klischees beladen. Selbst Musikerinnen vorgeblich emanzipierter Undergroundbands präsentieren sich, einer kruden Logik folgend, wieder als Lustobjekte, wenn sie Foucault im nassen T-Shirt lesen. Auch in der aktuellen Welle an deutschen Bands mit Frontfrau wird ihrer Meinung nach diese immer noch als exotischer Fremdkörper präsentiert und wahrgenommen. Wie viel Rebellion steckt noch im Pop? Das erfordert auch die Gegenfrage, wie viel Interesse daran noch bei der Zielgruppe besteht. So belegen etwa die Shell-Jugendstudien jährlich neu, dass soziales Engagement zwar als hochwichtig angesehen wird. Gleichzeitig werden die wenigen, die sich tatsächlich aktiv und kritisch engagieren, von der wertkonservativen, leistungsorientierten Mehrheit doch eher als utopische Träumer angesehen, die ihre Zeit verschwenden und Karrieren gefährden.

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