Die Zeiten ändern sich – die Legenden bleiben

LUXEMBURG. Und er kann’s immer noch, vielleicht besser denn je: Fast vierzig Jahre nach seinem Durchbruch in Woodstock begeisterte Joe Cocker in Luxemburg mit dem, was der Titel seiner aktuellen Tournee verspricht: "Heart & Soul", Herz und Seele.

Die Zeiten ändern sich. Ein Blick aufs ankommende Publikum macht es überdeutlich: Stöckelschuhe und Paillettentops anstelle von Jesuslatschen und Hippielook, Luxus-Limousinen statt bemalter Rostlauben, Shuttle statt Fußmarsch, Sekt statt Marihuana. Doch eins hat Bestand und erfüllt die Sehnsucht nach Wahrem, Echtem und Ehrlichem in einer immer schnelllebigeren Welt: Musik von Joe Cocker, die nicht nur in die Jahre gekommene Musikpilger, sondern inzwischen auch deren Kinder und Enkel in Scharen in die Arena d'Coque in Luxemburg zieht.Aus dem Dunkel röhrt die vertraute Stimme

Dort erwartet sie, nach dem Vorprogramm mit grundsolidem Bluesrock von Todd Sharpville, eine völlig abgedunkelte Bühne. Und aus dem Dunkel plötzlich, zur Einleitung von "With a little help...", röhrt es warm und vertraut heiser: "Lend me your ears and I will sing you a song" (leiht mir Eure Ohren, ich werde Euch ein Lied singen). Schon da braust Jubel durch die Halle, gehen die weiteren musikalischen Begrüßungszeilen aus anderen Cocker-Songs fast unter, bis das Urgestein der Rockmusik ganz und leibhaftig auf der Bühne steht. Ein älterer Herr im schwarzen Anzug, mit rührend ungelenken Bewegungen, aber einer kraftvollen, energiegeladenen Stimme, die schon beim ersten Song "Shame on you" den Raum in Schwingungen versetzt. Es ist, als schöpfe Cocker aus den Tiefen seiner Lebenserfahrungen, als schreie, röhre, gurgele und seufze er sein Innerstes hinaus. Und plötzlich sieht man nicht mehr den älteren ungelenken Herrn, sondern einen charismatischen Botschafter menschlicher Gefühle. Jetzt wird auch klar, warum die Bühne so schnörkellos schlicht gehalten ist. Die wuchtige Präsenz Cockers braucht kein schmückendes Beiwerk. Sie braucht nur Menschen, die sich von ihr anstecken lassen, so wie all jene Begeisterte, die zu "Feeling alright", "Summer in the City" oder "When the night comes" tanzen, singen und Wunderkerzen schwenken. Cocker und seine fantastische Band liefern Schlag auf Schlag ein Feuerwerk aus Hits und Ohrwürmern in allerbester Qualität. Das ist die persönliche Ansprache des Sängers an sein Publikum, vielleicht sein Dank an die, die ihm auch in Krisenzeiten die Treue gehalten haben. Es braucht keine weiteren Worte - bis auf die, mit denen Cocker Live8 würdigt und deshalb einen Song von U2 ankündigt. Der geht durch und durch, genau wie "N'oubliez jamais", das besonders die französischen Gäste zu spontanem Jubel hinreißt, oder "I put a spell on you", in dem Cockers Reibeisenstimme und peitschende Gitarrenklänge in die tiefsten Tiefen des Blues führen.Der Schrei kommt lang, laut und heiser

Dann kommt der Höhepunkt, die legendäre Beatles-Adaption "With a little help from my friends", und alle fiebern mit: "Kommt er, der Schrei, oder kommt er nicht?" Er kommt, und wie! Lang, laut und heiser. Zum Schluss springt der ungelenke Sänger erleichtert in die Höhe, zweimal sogar, landet sicher - und erneut in den Herzen des Publikums. Und das ist nun nicht mehr zu halten. Mitleid mit den Konzertbesuchern, die am Sitzplatz festkleben müssen. Sie benutzen dafür ihre Stimme und unterstützen Joe Cocker in einem anderen heiklen Moment, dem hohen "me" am Ende von "You are so beautiful". Eigentlich unnötig, denn Cocker schafft den Ton mit Bravour. Die Zeiten mögen sich ändern, Legenden bleiben.

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