Die große Zumutung für alle Weltweisheit

TRIER. Die Leidensgeschichte Jesus ist oft schon Gegenstand eindrucksvoller Konzerte gewesen. Martin Folz setzte dem mit seiner "Passio" am Karfreitag ein Stück religiöser Besinnung entgegen.

Das ist kein normales Konzert: ohne Eintrittskarten, ohne ausführliches Programm, ohne Platzanweiser, Pausengespräche, Beifall, Bravos und, vielleicht, Buhrufe. In der Trierer Jesuitenkirche versammeln sich dicht gedrängt die Menschen, um der musikalischen Passionsgeschichte zu lauschen. Das Leiden und Sterben des Jesus Christus, gesungen, gesprochen, manchmal geschrieen, immer ohne ästhetische Verbrämung.Menschen mitnehmen ins Geschehen der Passion

Die "Passio" von Martin Folz erhebt keinen eigenständigen Kunstanspruch. Sie will erzählen, die Menschen anziehen und mitnehmen in das große, dunkle und doch tröstende Geschehen der Passion. Der Spee-Chor beginnt mit den Einsetzungsworten des Abendmahls in einer doppelchörigen Motette von Heinrich Schütz - sanft und verhalten. Die folgende"Passio" von Folz setzt an mit einem Gebet Jesu am Ölberg, einem Gespräch des Gottessohns mit dem Vater. Und dann die Leidensgeschichte nach Johannes, in der vorsichtigen Neuübertragung von Walter Jens. Martin Folz hat ein gradliniges, ein karges Stück geschrieben - wortbezogen, eine Erzählung in Tönen, kein herrisch-autonomes Kunstwerk. Der hellwach musizierende Männerchor "Ensemble 85" mit den Volkschören, Johannes Reitz als Jesus, der Pilatus von Altfried Rempe und Folz selber als Evangelist, das genügt ihm für den Vokalteil, und das Instrumentalensemble beschränkt sich auf Klarinette (Catrin Stecker), Violoncello (Sonja Lehrke) und Akkordeon (Kerstin Bludau-Weitzel). Und doch ist die Komposition in der Melodik einfallsreich, frei von Klischees und mit verhaltener Dramatik. In die Handlung hinein singt der Spee-Chor Choräle von Johann Sebastian Bach. Ruhepunkte und auch emotionale Stützen im verwirrend bösen Spiel von Prozess und Hinrichtung. Und am Ende, wieder mit dem "Ensemble 85" und den drei vorzüglichen Instrumentalistinnen, eine Psalmvertonung des Zeitgenossen Arvo Pärt: "De profundis clamavi" - "Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir". Eine scheinbar einfache und doch vielschichtige Motette. Die Gebetpraxis im Judentum, die Bußübungen des Mittelalters, die persönliche Gläubigkeit der Neuzeit und die meditative Monotonie tibetischer Gebete verschränken sich zu etwas Neuem, ganz Zeitgerechten. Fügt sich das alles zu einem geschlossenen Bild? Schütz hat mit Pärt wenig zu tun, und die Bach-Choräle stechen isoliert heraus aus der "Passio" von Martin Folz. Aber der Mangel ist Gewinn. Der Chorleiter und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter verzichten auf die glättende, schönende, ästhetisierende Bearbeitung. Die Passion des Gottessohns bleibt, was sie ist - eine ungeheure Zumutung für alle Weisheit der Welt. Die Gläubigen in der Trierer Jesuitenkirche gingen still und nachdenklich hinaus.

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