Drachen machen glücklich

TRIER. Feuerspeiende Dra-chen, verstörte Mamas und glücklich schwitzende Lang-haarige: "Blind Guardian" hat in der voll besetzten Europahalle gespielt und fasziniert

Auf welche Brust man auch schaut, es steht fast überall das gleiche drauf - und es sieht hübsch martialisch aus: blutverschmierte Äxte, niedergemetzelte Monster und fliegende Drachen dekorieren den goldgelben Schriftzug: "Blind Guardian". Viele derer, die gekommen sind, scheinen ihn seit Jahren auf ihrer Brust durch die Welt zu tragen, denn längst ist das umgebende Schwarz einem verwaschenen Grau gewichen. Sie sind keine 17 mehr. Mit Mama sind daher nur wenige da, und die wenigen Mütter scheinen sich in ihrer Haut auch nicht so ganz wohl zu fühlen zwischen all den schwarz gekleideten Langhaarigen. Statt sich mit ihrem Sprössling in die schwitzende Masse zu begeben, steht eine von ihnen im toilettennahen Teil des Europahallen-Foyers und guckt hilflos.Extatisch bebende Masse

Drinnen lernt der Sprössling derweil von den erfahrenen Alt-Fans, wie man's macht. Man nehme Ring- und Mittelfinger, klappe sie ein, strecke Zeigefinger und den Kleinen weit aus, fixiere das ganze mit dem Daumen, gucke ein kleines bisschen böse und wippe den ausgestreckten Arm im Takt mit dem Sprechgesang: "Guardian, Guardian, Guardi-an…" - und irgendwann werden die Jungs dann schon kommen. Sie kommen - und mit ihnen kommt ein Gewitter. Im brausenden Gitarrensturm lassen sie ihre Fans in Minuten um ein Jahrzehnt jünger werden. Lassen sie mit "Lord of the rings", "Welcome to dying" oder "Time what is time" bebenden Herzen den Gefahren Mittelerdes trotzen, schenken ihnen "Imaginations from the other Side" und das Skript ihres eigenen Requiems, während die projizierte Bühnenshow sie über ein nicht enden wollendes Gräberfeld fliegen lässt. Von der neuen CD "A Twist in the Myth" gibt es nur zwei Lieder zu hören. Das scheint jedoch niemanden zu stören. Fremder Bierdunst in der Nase, fremde Haare im Gesicht, fremde Brüste im Rücken - der eigene Schweiß vermischt sich untrennbar mit dem des Nachbarn. Das einzige was über den Verlust des persönlichen Quadratmeters Raum hinweghilft, ist, sich mit dieser haarigen, schwitzenden, extatisch bebenden Masse zu vereinen und sich mit ihr auf den Wogen der Metal-Hymnen nach "Valhalla" oder in die dunklen Tiefen Morias tragen zu lassen; erregt im Takt mithüpfend, hoch über dem Kopf mitklatschend, den Schweiß ebenso ungehemmt herauszulassen wie die Songtexte, die man vor langen Jahren auswendig gelernt hatte. Bei alledem jedoch nicht vergessen, dass einem jederzeit ein stage-divender 100-Kilo-Mann von hinten auf den Kopf fallen könnte. Hart hin oder her. Tief in den Blind Guardian-Fans brennt die Sehnsucht nach dem sanften Lied der Barden, die im Dämmerlicht des Waldes von besseren Zeiten singen, von Hobbits, Zwergen, Menschen und Elben. "Bard's song, Bard's song, Bard's song", fordert die Menge schon, als Sänger Hansi Kürsch nach nur einer Stunde das Ende des Konzerts ankündigt. Bis sie ihn bekommen, müssen sie noch eine weitere Stunde warten. "Now the bard's songs are over and it's time to leave", singt Kürsch und setzt doch noch "Mirror, Mirror" obendrauf, ehe er sein verschwitztes Publikum mit reichlich Endorphin im Blut in die Dunkelheit der Trierer Nacht entlässt.

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