Düstere Bestandsaufnahme

TRIER. Furiose Uraufführung für ein faszinierendes Stück: "Der Vogel ist ein Rabe" nach dem gleichnamigen Roman von Benjamin Lebert erweist sich im ungewöhnlichen Ambiente der Szene-Disco "Forum" als echte Entdeckung.

Jens ist fett. Christine hat Bulimie. Henry bekommt jedes Mal Durchfall, wenn er die geschützte Umgebung seines Zimmers verlässt. Lauter Defekte. Das passt nicht in die herrschende Welt makellosen Stylings, so wenig wie ihre verzweifelt-unfertigen Liebesversuche, der ungestillte Lebenshunger und die Sehnsucht nach einem Ort, "an dem wir nicht allein sind". Perfekt in ihrer Oberflächlichkeit ist nur Mandy, die Prostituierte. Nicht allein dank des vollendet eingesetzten Körpers. Sondern auch, weil sie so ein unperfektes Ding wie Liebe gar nicht sucht, sondern nur einen solventen Lover, der sie aus der Szene herausholt. Aber Mandy ist am Ende tot.Eine Geschichte, so düster wie das Ambiente

Benjamin Leberts Bestandsaufnahme ist so düster wie das Ambiente im "Forum" in der Hindenburgstraße. Träge rotieren die Disco-Kugeln, deren unablässiges Surren einen Soundtrack auch für musiklose Szenen liefert. Aber sie reflektieren keine bunten Strahlen, wie sonst, wenn hier getanzt wird. Der ganze Raum ist Teil der Inszenierung. Und zwar nicht nur als Gag, sondern mit aller Konsequenz. Die fünf Darsteller bewegen sich zwischen den 100 Zuschauern, die auf Barhockern oder Sesseln mitten im Geschehen sitzen. Über dem Saal liegt elektrische Spannung, vom Moment, in dem Claas Willekes geniale Musik- und Geräuschkulisse einsetzt, bis hin zur überraschenden Schlusspointe nach 80 packenden Minuten. Bettina Rehm, die Regie führt und gemeinsam mit Peter Oppermann das Stück geschrieben hat, gelingt ein rares Kunststück: Sie bringt Leberts Sprache, seine Schonungslosigkeit und Roheit, seine Brillanz und seine Drastik unbeschädigt aus dem Roman auf die Bühne. Und trotzdem baut sie ein dramaturgisches Gerüst, das auch für denjenigen trägt, der das Buch nicht gelesen hat. Da stimmt die Mischung: Die Handlung wird nicht wie im Kino oder Fernsehen nacherzählt - die Bilder sind abstrakt, und das Publikum muss seine Fantasie einbringen. Aber Rehms Erzählweise bleibt nahe genug an der greifbaren Realität, um Menschen aus Fleisch und Blut zu zeigen, deren Lebensgefühl für die Zuschauer manchmal schmerzlich genau nachzuempfinden ist. Die Zugfahrt von München nach Berlin, bei der sich Leberts kompletter Roman abspielt, ist auch im Stück Ausgangspunkt des Geschehens. Doch die Erzählungen von Henry und Paul, die sich im Abteil kennen gelernt haben, verselbständigen sich zu eigenen Szenen. Aber nie gehen Tempo und Spannung verloren, da stimmt nicht nur das Szenenbild von Susanne Füller, da stimmt auch das Regie-Handwerk. Nur der Schluss ist verschenkt: Der soll wohl so lakonisch sein wie Leberts Erzählweise, aber er wirkt eher flüchtig. Aber das sind Peanuts angesichts einer umwerfenden Ensemble-Leistung. Jan Brunhoeber, Jens Koch und Alexander Ourth spielen keine Rollen, sie kreieren Charaktere. Präzise bis in die kleinste Marotte, glaubhaft, überzeugend. Die Frauenrollen sind mit Claudia Felix und Hille Beseler keinen Deut weniger gut besetzt, bieten freilich nicht so viel dankbaren Stoff wie die der männlichen Kollegen. Lebert schreibt eben vorrangig über das, was er am besten kennt. Die Frage, wie authentisch das alles ist, lässt den betagteren Zuschauer nachdenklich zurück. Wer weiß schon, was heute in 20-Jährigen vorgeht? Man wird Lebert wohl glauben müssen, auch wenn seine beunruhigende Welt fast ausschließlich aus Beziehungs-Havarien, missglückten Versuchen, enttäuschten Erwartungen besteht. Aber vielleicht hat sich Claas Willeke etwas dabei gedacht, als er ausgerechnet den (wunderbar verfremdeten) Steve-Miller-Hit "The Joker" zum Leitmotiv gemacht hat. Die Angeber-Ballade vom unwiderstehlichen Weltraum-Cowboy stammt aus dem Jahr 1973, wurde 1990 dank der Jeans-Werbung erneut ein Hit und läuft auch heute wieder auf allen Stationen. Was uns das sagen könnte? Das Problem mit dem Schein und dem Sein hat es schon früher gegeben. Die 20-Jährigen in den Siebzigern haben es überlebt, die 20-Jährigen in den Neunzigern auch. Für die 20-Jährigen von heute gibt's also noch Hoffnung. Vorstellungen: 6., 13., 15. und 29. März; 5., 12., 19., 24., 26. April; 3., 10., 22., 24., 29. Mai. Karten: 0651/7181818

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