Durchs finstere Tal

Grausamster Missbrauch und Gewalt gegen Kinder, Zwangsprostitution, körperlicher Zerfall, Selbstverletzungen: Das sind nur einige der grausamen, zutiefst erschütternden Bausteine der Geschichte, die der Roman "Ein wenig Leben" der amerikanischen Schriftstellerin und Journalistin Hanya Yanagihara erzählt. Der Leser tastet sich durch die Lebensgeschichte von Jude St.

Durchs finstere Tal
Foto: (g_kultur

Francis, einem Mann, der die genannten Abgründe der menschlichen Exi stenz alle durchlebt, sich folgerichtig als seelische und körperliche Ruine dahinschleppt und nur an einem dünnen, aber unendlich festen Faden lebenslanger Freundschaft und Liebe zu einer Handvoll Mitmenschen gerade so durchs Leben gezerrt werden kann.
"Ein wenig Leben" ist auf seine Art eine schreckliche Erfahrung. Ein Buch, das frustriert und schockiert und das die allermeisten Leser wohl früher oder später frustriert, angeekelt oder entsetzt zur Seite legen werden.
Der emotionale Ballast macht aus dem Lesevergnügen eine zähe, anstrengende Tortur - die aber als emotional destruktive Tour de Force auch wie eine Linse wirkt, die den Blick brennend hell aufs Wesentliche der Menschlichkeit und des Lebens fokussiert und dabei eine beeindruckende Kraft und Sogwirkung entwickelt. So kann die Geschichte zum Schluss eine karthatische Wirkung entfalten, die das Buch für Leser, die durch fast 1000 Seiten Elend und Weltschmerz waten, nicht nur zur unvergesslichen, sondern auch zur tatsächlich gewinnbringenden Erfahrung macht. Die unterkühlte, teilweise etwas staksige Sprache trägt dabei zur Atmosphäre bei. Die Figuren, ihre Biografien, ihre Worten und Taten wirken oft traumwandlerisch, vernebelt, seltsam verzerrt, so dass sich die Geschichte in einer diesigen Zwischenwelt zwischen realistisch vorstellbarem und schrecklich-schöner Fabel platziert. Ob man sich in den Roman hineinwagt, muss jeder selbst entscheiden - es ist aber so gut wie sicher, dass jeder, der es tut, den Ausflug so schnell nicht vergessen wird.
David Falkner
Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben Hanser Verlag, 2017, 960 Seiten, 28 Euro

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