Ein Hör-Spiel über die menschliche Unzulänglichkeit

BITBURG. Ein Seelenarbeiter in Bitburg: Martin Walser las am Freitag im überfüllten Haus Beda aus seinem neuen Roman "Augenblick der Liebe".

"Ich lese, um zu sehen, ob ich mit meinem Buch allein bin", sagt er. Allein - zumindest was die Menge angeht- ist Martin Walser an diesem Abend in Bitburg weiß Gott nicht. "Rappelvoll" ist der Saal im Haus Beda, wo ihn sein Publikum mit freudiger Hingabe empfängt. Bürgermeister Joachim Streit liest vor lauter Begeisterung erst einmal selbst aus einem Walser Text vor, und Veranstalter Josef Zierden spricht nach der Lesung von einem "historischen Augenblick" und legt eine Art Schweigeminute ein.Mit jeder Geste um Zustimmung werben

Aufrecht betritt der 77-jährige Schriftsteller die Bühne, und aufrecht steht er hinter dem Pult, das zum literarischen Prüfstand wird, wenn er aus seinem neuen Buch "Augenblick der Liebe" liest. Um jeder Verwechslung vorzubeugen, hat er vorher das Verlagsplakat weggeklappt, das ihn - Typ Dichter und Denker - im Trenchcoat mit breitkrempigem schwarzem Hut und Wetterleuchten im Gesicht zeigt. Um Zustimmung scheint Walser mit jedem Satz und jeder Handbewegung zu werben, wenn er jene Liebesgeschichte vorträgt, die eigentlich eine Geschichte von der Unmöglichkeit der Liebe ist. Nur einen Augenblick besteht Hoffnung für sie, dort an jenem Kaffeetisch, wo zwei Menschen dem Duett ihrer Stimmen nachhören. Der Rest ist hoffnungslos; da hilft nicht einmal die Zuhilfenahme eines entlegenen Philosophen. Drei Episoden dieses Amoklaufs der Gefühle liest Walser, drei Schlüsselszenen, die er zum Hör-Spiel über menschliche Unzulänglichkeit und Bedürftigkeit eint. Wie immer in menschlichen Verhältnissen ist auch hier die Komik der Tragik verschwistert. Walsers Zuhörer "entbinden in diesem Stück" - wie der Autor die Aneignung durch sein Publikum nennt - vor allem die unfreiwillige Situationskomik. Viel wird an diesem Abend gelacht. Von der Beklemmung des Stücks und der Hilflosigkeit seiner Hauptdarsteller mögen die Walserfreunde diesmal offenbar wenig wissen. Dabei geht es ganz entschieden darum. Um "Zwiespalt, Sprachlosigkeit und das labile Gleichgewicht menschlicher Gefühle" ging es schon am Nachmittag beim Gespräch in Walsers Hotel. Im leeren, diskret beleuchteten Speiseraum scheint der Autor ein anderer. Einer, dem man durch Schweigen näher kommt, sitzt da offensichtlich am Tisch. Seine Stimme orchestriert diesmal kein Buch, dafür die eigene Seele. Ein einsames Ringen um das "Entblößen und Verstecken" von Gefühlen und Gedanken sei das Schreiben eines Buches, gesteht Walser. Denn: "Ein Buch schreibt man, um im Umgang mit den eigenen Gefühlen zu wissen, was läuft da?" Eine harte Arbeit sei das, abhängig von der Tagesform und nicht zuletzt von der kindlich katholischen Prägung. Die hat noch immer ein gewichtiges Wort mitzureden. "Bis heute gibt es Dinge, die ich nicht aussprechen kann." Eine konkrete Geschichte erzählt weder sein neuer noch einer seiner früheren Romane nach. Eine Art literarischer Puppenspieler ist Walser, der seine Geschöpfe aus den eigenen Erfahrungen und Erkenntnissen formt und belebt. "Ich liebe jede meiner Gestalten", sagt Walser. Schließlich ist jede, was er ist und was er nicht ist. Und die Liebe? "Die Liebe ist eine so besondere Frequenz in unserem Seelenvermögen, wenn man sie denn spürt. Man kann sich in nichts so wenig irren wie darin, was Liebe ist oder nicht." Gewiss, sagt Walser, bisweilen halte man an der falschen Gefühlsfrequenz einer Beziehung fest. "Es gibt alle Arten von erschütternden Höflichkeiten." Ein Seelenarbeiter, der versucht, seine Bücher "an das lebendige Dasein der Gesellschaft anzubinden", ist nach Bitburg gekommen. Die Anbindung an Menschen, die muss nun einmal sein. "Allein sein", sagt Walser und stockt, "das ist" - und dann setzt er noch einmal an: "Allein sein..." Aber auch den Satz beendet er nicht.

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