Ein Tag der Entdeckungen

LUXEMBURG. Wie viel Kultur verträgt ein Mensch? Unser Redakteur Dieter Lintz war 15 Stunden beim Start von Luxemburg 2007 unterwegs.

9 Uhr, Bahnhof Wasserbillig Der Tag fängt gut an. Das Öko-Rückfahrticket von Wasserbillig nach Luxemburg kostet geldbeutelfreundliche fünf Euro, der Parkplatz ist kostenlos. Keine schlechte Alternative. Im Zug sitzt hinter mir ein Ehepaar aus Trier, das gerade mit dem Saar-Lor-Lux-Ticket unterwegs ist zu einer Wanderung nach Metz. Auf dem Rückweg wollen sie das Abendprogramm der Kulturhauptstadt-Eröffnung mitnehmen. Die Großregion lebt - viel mehr als mancher ahnt. 11 Uhr, Rotunde 1 Eine hüftsteife Eröffnungsfeier nimmt ihren Lauf. Alle Redner beginnen ihre Ansprachen mit "Euer königliche Hoheiten", die meisten Reden sind auch danach. Viel diplomatisches Blabla, dazwischen ein bisschen Pflicht-Kulturprogramm. Immerhin: Guy Dockendorf, Kulturhauptstadt-Präsident wie schon bei der Erstauflage 1995, zitiert Brechts Lob der Veränderung. Da nickt der Großherzog freundlich, der nebst Gemahlin auf Sesseln in der ersten Reihe sitzt, daneben die Ministerpräsidenten auf bürgerlichen Stühlen, dahinter die Granden der Großregion. Der Rest des Publikums darf stehen - vielleicht die Rache von Ober-Organisator Robert Garcia, der solche Festakte nicht besonders mag. Nicht einmal eine Krawatte hat er angelegt, dafür aber Schnürsenkel in Kulturhauptstadt-Blau - wie der berühmte Hirsch. 13 Uhr, Rotunde 1 Als letzter Redner reißt Premierminister Juncker mit seinem ironischen Esprit das offizielle Publikum, darunter buchstäblich alles, was in Trier Rang und Namen hat, aus der Lethargie. Nun werde auch der letzte begreifen, dass Luxemburg mehr sei als "tausend Banken und drei Bürgersteige". Martin Folz sammelt seine Sänger ein. Der Trierer Dirigent hatte die Ehre, mit seinen Kollegen vom grenzüberschreitenden Robert-Schuman-Chor die Veranstaltung zu umrahmen. Etwas Jazz aus der rumänischen Partnerstadt Sibiu, Edelst-Fingerfood und Sekt, dann steigen die Würdenträger in ihre Dienstwagen oder Sonderbusse. Von der realen Kulturhauptstadt werden die meisten nichts mitbekommen. 15 Uhr, Mudam Das Museum für moderne Kunst auf dem Kirchberg ist ein derart grandioser Bau, dass sich der Besuch dort auch lohnen würde, wenn an den Wänden lediglich die Seiten des Telefonbuchs von Wanne-Eickel ausgehängt wären. Heute prangt dort die erste Werkschau des wichtigsten Luxemburger Künstlers der Moderne, Michel Majerus. Tritt ein Banause wie ich den Luxemburgern zu nahe, wenn ihn die Elaborate immer mal wieder an Hape Kerkelings "Hurz" erinnern? Auch hier massenhaft Trierer Kulturfreunde. Und Präsident Dockendorf, mitten im Getümmel. 16.30 Uhr, Kunstforum Casino Lachende, staunende Menschen, trotz drangvoller Enge. Die Lichtkunst-Ausstellung "on/off" lockt mit faszinierenden Lichtspielen unterschiedlicher Art. Gerade probiert ein junges Pärchen aus Wittlich eine optische Installation aus, bei der durch zügiges Schütteln des Kopfes plötzlich Buchstaben in den Augenwinkeln sichtbar werden, die quasi in der Luft schweben. Toll. 18 Uhr, Bahnhofsvorplatz Den "Gesang der Sirenen" haben sich manche Zuhörer wohl eher im übertragenen als in einem derart wörtlichen Sinn vorgestellt. Aber der anschließende Umzug mit den meterhoch in der Luft schwebenden Fantasie-Figuren der "Plasticiens volants" entwickelt sich unversehens zum Volksfest. Tausende von Menschen schließen sich dem Zug spontan an, lassen sich treiben, genießen die kuriose Mixtur aus futuristischen Bildern und der stimmungsvollen Musik der Spielmannszüge in ihren historischen Uniformen. Man zieht zum "Pont Adolphe", wo die "Groupe F" innerhalb von 15 Minuten ein imposantes Feuerwerk verballert, mit dem man die nächsten fünf Moselfeste hätte bestücken können. Ein Stakkato wie bei einem Heavy-Metal-Schlagzeugsolo knallt in den Himmel über der City und hinterlässt im Tal eine Nebenwand. 21 Uhr, Knuedler Das Zelt der Nationen bietet Nahrung für den eher rustikalen Kulturgeschmack. Cover-Bands Marke Kirmes, blaue Hirschgeweihe, mit denen man sich fotografieren lassen kann, Schnaps und Bier. Eine Informationsbörse, bei der die Trierer, Bitburger und Konzer den aktuellen Stand austauschen: Philharmonie voll, Schlangen vor dem Kapuzinertheater. Nur in der Grand Opéra ist Platz, aber die Kap-Verde-Party dort soll nicht so gut sein. 22.30 Uhr, Abtei Neumünster Die schönste Luxemburger Kultur-Location unten im Grund wird für viele zur Entdeckung des Abends. Der Freihof mit Lichtkunst und phänomenaler Fels-Kulisse, der prächtige, überdachte Innenhof mit seinen Jazz-Klängen: Wer braucht da noch in den Süden zu fahren? Leider ist die Beatles-Nacht der Luxemburger Rock-Legenden so gestopft voll, dass nur noch Plätze am Monitor vor der Tür bleiben. Auch für Präsident Dockendorf. Der war schon bei den Sirenen, beim Umzug und beim Feuerwerk in vorderster Reihe - so omnipräsent wie Franz Beckenbauer bei der Fußball-WM. Gegen Mitternacht, Rotunde 2 Vor dem Eingang zu den Rotunden drängt sich junges Volk, aber die Security lässt niemanden mehr hinein. Über tausend Besucher tanzen zu Reggae-Pop in der Rotunde 1, während der ruhige Lounge-Sound der In-Szene-DJs und die psychedelischen Lichtspiele gesetzteres Publikum locken. Mittendrin ein unübersehbarer Grauschopf: Tatsächlich, da chillt Kulturjahr-Präsident Guy Dockendorf, der Luxemburger Beckenbauer. Das hätte nicht mal Franz, der Kaiser geschafft.

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