Ein großes Leben in fünf Sekunden

ESCH/LUXEMBURG. Stilbildend, elegant, zynisch: Morrissey ist wohl der größte Pop-Dandy, die späte Antwort auf Oscar Wilde. Der englische Sänger, der mittlerweile in Rom lebt, spielte zum Auftakt des Kulturhauptstadt-Jahres in der Rockhal Esch. Ein großartiges Konzert – eingerahmt in Morrissey- und The-Smiths-Zitate.

Mache die Augen zu und denke an jemanden, den du begehrst. Dann lass mich dich küssen (Let me kiss you).Morrissey steht auf der Rockhal-Bühne. Die Haartolle ist noch fast wie früher zu alten "The Smiths"-Zeiten. Fast 20 Jahre ist das her. Nur die Schläfen sind grau geworden. Aber sein Biss und die Selbstironie sind geblieben. Der Gesang ist jetzt vielleicht noch besser. Immer noch verspielt, aber reifer. Morrissey singt (so in etwa): 'Nun öffnest du die Augen und siehst jemanden, den du körperlich völlig abstoßend findest.' Gleichzeitig reißt er sich unvermittelt das edle Hemd vom Körper. Der 47-Jährige steht nun oben ohne da. Zeigt Hüftgepäck, das vom Hemd gut kaschiert wurde. Die knapp 2000 Zuschauer johlen.

Jeder Tag ist wie ein Sonntag. Jeder Tag ist still und grau (Every Day is like Sunday).

Es ist Sonntag. Das Lied passt genau zum Abend in Luxemburg, findet Morrissey. Während des Lieds springt ein junger Mann auf die Bühne, versucht, Morrissey zu umarmen. Aber schon eine Sekunde später stürzen vier bullige Security-Kräfte auf die Bühne und reißen den Mann von Morrissey weg. "Netter Versuch", kontert der Sänger. Er ist es gewohnt. Viele seiner Fans sind wie er: verschroben, allein, clever. Unnahbar und doch ganz nah. Manche wollen ihn umarmen. Er selbst reicht vielen in den ersten Reihen die Hand. Etwa, während er "I forgive you" singt. Auf dem vorletzten Album hat er in einem Lied bereits Jesus vergeben. Jetzt sind die Luxemburger dran. Er hat Liedzeilen geschrieben für die Ewigkeit. So gilt Morrissey als vielleicht bester Pop-Lyriker. Ein König der Dandys, ein Oscar Wilde des Pops. Generös. Genial. Auch mal größenwahnsinnig.

Wenn du fünf Sekunden Zeit hast, erzähle ich dir meine Lebensgeschichte (The Smiths: Half a Person).

Morrisseys frühere Band "The Smiths" wird in England gern als einflussreichste Pop-Band aller Zeiten gefeiert - noch vor den Beatles. Die Gruppe löste sich 1987 auf. Bands wie Coldplay, The Killers, Oasis oder Franz Ferdinand wurden von Morrissey, Gitarrist Johnny Marr & Co. inspiriert. "Half a Person" spielt Morrissey zwar nicht in Luxemburg, dafür aber fünf andere Smiths-Stücke. Ganz repräsentativ ist die Auswahl dabei nicht. Dafür steht zu viel vom aktuellen Album "Ringleader of the Tormentors" auf dem Programm. Aber der Aufbau passt.

Ich habe von einer Zeit geträumt, in der die Engländer die Schnauze voll von den Tories und der Labour-Partei haben. In der sie auf den Namen Cromwell spucken und das Königshaus verachten (Irish Blood, English Heart).

Morrissey - Halb-Ire, Halb-Engländer - singt voller Inbrunst. Er hat immer ausgeteilt. Ist einer, der mit der Monarchie abrechnet, mit der englischen Politik. Mit Prominenten, die Pelze tragen (zuletzt im Visier: Madonna). Und nicht zuletzt mit sich rechnet er ab. An Luxemburg lobt der Vegetarier ("Meat is Murder"), dass die Tierschützer am Wochenende so aktiv in der Stadt unterwegs waren.

Bitte, bitte, bitte lasse mich einmal das bekommen, was ich will. Gott weiß, es wäre das erste Mal. (The Smiths: Please, please, please let me get what I want).

Die erste von zwei Zugaben. Knapp 100 Minuten spielt Morrissey. Mit toller Fünf-Mann-Band im "weißes Hemd mit Fliege"-Outfit. Gelegentlicher Bläser-Einsatz, dazu ein trommelfell-erschütternder Gong. Seit fast 20 Jahren ist Morrissey solo unterwegs. Seitdem spielte er insgesamt nur zwölf (!) Konzerte in Deutschland, das letzte vor einem halben Jahr bei Rock am Ring. Ihm war anzusehen, dass er wenig Lust hat, auf einem Mammut-Festival neben Metallica oder Guns N' Roses zu spielen. Damals beendete er Ansagen genervt mit "und bla, bla, bla". Bei seiner Luxemburg-Premiere ist das anders. Da gibt es viel Liebe - und liebevolle, kleine Gehässigkeiten. Etwa, als er zum Auftakt die nicht eben überfüllte Rockhal mit Opernglas vor den Augen betritt und seinen Kollegen nach einigen Sekunden Entwarnung gibt: "Okay, es ist ein Publikum da." Erst dann geht es los. Die Trierer Veranstalterin Doro Popp sagt nach dem Konzert, dass sie Morrissey schon immer gern mal ins Trierer Amphitheater geholt hätte. Nur einmal das bekommen, was man will.

...und schrieb schreckliche Verse an ein Luxemburger Mädchen mit vorstehenden Zähnen. (The Smiths: Ask)

Auch ein Klassiker seiner früheren Band. Morrissey spielt das Lied nicht. Dafür widmet er ein Stück allen Luxemburgerinnen mit vorstehenden Zähnen: "Let me kiss you". Drei Minuten später steht er mit blankem Oberkörper da.

Konzerte in Deutschland: Morrissey gastiert heute in Frankfurt und am Freitag (15. Dez.) in Düsseldorf.

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