Ein kultiges Theater-Wunder

TRIER. "Junk Opera" nennt sich das Musical "Shockheaded Peter". Die Trierer Produktion erweist sich keineswegs als "Müll-Oper", sondern als kultig-schräge, zeitgemäße Persiflage auf den "Struwwelpeter".

Manchmal gibt es im Theater so etwas wie ein kleines Wunder. Da trifft das Premierenabo-Publikum auf ein Stück, in dem es von, sagen wir: Merkwürdigkeiten nur so wimmelt. Da kommen Leute, die Fidelio und Fledermaus gebucht haben und hören Triers abgefahrenste Rockband. Spätestens der Anblick der Dame, die im schulterfreien Abendkleid durchs Foyer schreitet, lässt Vorahnungen aufkommen von empörten Zuschauern, die zur Pause murrend das Weite suchen. Und dann das: Zwei Stunden jagt eine Gelächter-Kaskade die nächste, und am Ende gibt es minutenlange Ovationen. Das Rezept der englischen Truppe um Phelim McDermott und Julian Crouch, die das Stück kreiert hat, ist einfach bestechend. Man erfinde zur allseits bekannten Struwwelpeter-Geschichte aktuelle Interpretationen, mische eine Prise Psychoanalyse darunter und serviere das Ganze mit einem deliziösen Dressing aus pechschwarzem englischen Humor. Nicht zu vergessen die hitverdächtige Tafelmusik. Manchmal reicht schon der Auftritt, um Gelächter zu provozieren. Der verträumte Hans-guck-in-die-Luft kommt als Kiffer mit monströsem Mammut-Joint daher, der Zappelphilipp springt als ratschenschwingender Techno-Freak durchs Publikum. Und die Flamme, an der sich Paulinchen verbrennt, entpuppt sich als junger Mann mit feurigen Schlaghosen. Das kommt spaßig daher, legt aber so ganz nebenher auch die Komponenten verdrängter Sexualität frei, die der verklemmt-autoritären Pädagogik des "Struwwelpeter" zugrunde liegt. Doch keine Angst: Der moralische Zeigefinger wird nicht gereckt, höch-stens abgeschnitten wie der erigierte Daumen von Konrad, dem Daumenlutscher. "Shockheaded Peter" treibt seine genial-maka-bren Scherze mit dem Entsetzen, wenn etwa die Eltern des dahingeschiedenen Suppenkaspars statt der Schippe mit Erde noch schnell die letzte Kelle mit Suppe ins offene Grab schaufeln. Oder wenn die "bösen Buben" als Neonazis ihren schwarzen Nachbarn verfolgen, bevor "Super-Bimbo" als filmreifer Retter sie ins Tintenfass steckt. Man könnte stundenlang von den Gags erzählen, die in der Trierer Inszenierung von Alexander Etzel-Ragusa ihre Nähe zu großen Vorbildern nicht verleugnen. Da wird fröhlich Monty Pythons zitiert, da erscheint der Struwwelpeter wie King Kong, und der Hase, der den Jäger erschießt, gerät in einen Blutrausch Marke "Natural Born Killer". Dreh- und Angelpunkt der Produktion ist ein "Cabaret"-mäßiger Conferencier, von Klaus-Michael Nix brillant, variabel, beweglich und mit funkelnder Selbstironie ("Was ist aus mir geworden? Nix!") gespielt. Auf seinen Schultern lastet viel, denn die Inszenierung hat in den Übergängen zwischen den einzelnen Sketchen doch ein paar trockene Momente. Die szenischen Späße sind derb und deftig, werden gemessen am Londoner Original aber recht gemäßigt auf die Bühne gebracht. Da hat man ein paar Kompromisse fürs Abo-Publikum gemacht, ebenso wie bei der Musik. Die Shanes sind eigentlich viel zu gut, um so leise zu spielen. Die Band liefert eine reife Leistung bei der Illustration des Geschehens und findet gekonnt Wege, den Original-Soundtrack der "Tiger Lillies" in ihre musikalische Sprache mit ungewöhnlichen Akzenten von Akkordeon und Violine zu übertragen. Noch ein Erfolgsgarant: Die fantasievolle Ausstattung von Manfred Breitenfellner. Grandiose Kostüme, ein aufklappbares Riesen-Buch als Haupt-Bühnenelement, allerlei skurrile Zutaten, aber auch wunderbar-poetische Bilder wie die Himmelfahrt des "fliegenden Robert". In Bestform das Schauspiel-Ensemble. Tim Olrik Stöneberg ist ein geborener Comedian, Raimund Wissing, Markus Angenvorth, Eva Steines und Pia Röver bringen nachdrücklich in Erinnerung, was Trier an ihnen verliert, wenn sie zu Saisonende gehen müssen. Der Jubel war mehr als verdient und um so erstaunlicher, als der Spannungsbogen zum Ende hin nicht gerade geschickt aufgebaut war. Die nächsten Aufführungen: 13., 17. und 30. 12., Karten: 0651/718-1818.

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