Eine Horrornacht im Theater Trier

Trier · Mit Grand Guignol reloaded wollte die Sparte 0.1 das Pariser Gruseltheater zum dritten Mal auferstehen lassen - mit (fast) nur Laiendarstellern.

 Gebet an den allmächtigen Microsoft: eine Szene aus „Die Farbe aus der Cloud“ beim Grand-Guignol-Abend im Theater-Studio. TV-Foto: Mechthild Schneiders

Gebet an den allmächtigen Microsoft: eine Szene aus „Die Farbe aus der Cloud“ beim Grand-Guignol-Abend im Theater-Studio. TV-Foto: Mechthild Schneiders

Foto: Mechthild Schneiders (mehi) ("TV-Upload Schneiders"

Wie und wo fängt der Grusel an? Im Falle der Premiere von Grand Guignol reloaded "Horror in the fabric", dem dritten Horrorabend der Sparte 0.1. des Theaters Trier, beginnt er im Studio. Eine ältere Dame, Marke Puffmutter, flankiert von zwei schwarz-gewandeten Brautjungfern, sitzt im Weidenkorbsessel und lacht immer mal wieder lasziv-spöttisch ins Publikum, während ein junger Mann ziellos durch den Raum läuft. Den Kopf zwischen den hochgezogenen Schultern, bricht alle paar Minuten ein nervöser Anfall aus ihm heraus, lautstark mit immer schneller werdendem Fußgetrappel oder Trommeln mit den Armen auf den Oberschenkeln. Mit der Geschichte dieses ungleichen Paares beginnt und endet der inszenierte Schauerabend am Theater ganz im Stile des Pariser Vorbilds aus dem vorigen Jahrhundert.

Ein Abend am Grand Guignol versprach dem Theatergänger von 1897 bis 1962 eine verstörende, gruselige Nacht, geprägt von den, wie es im Programmheft heißt, Wechselduschen, also humorvollen Horrorstückchen und schaurigen Schockern. Ist Gänsehaut im Theater denn möglich, wenn man Schulter an Schulter im fast vollbesetzen Studio sitzt? Eines kann man auf jeden Fall unterschreiben: Verstörend ist der Abend im Theater Trier, wenn auch nicht immer im gruseligen Sinne. Und nicht immer im positiven.

Fünf Stücke sind es, die ineinander verwoben auf die Bühne gebracht werden. In Anlehnung an den anstehenden 200. Geburtstag von Karl Marx beschäftigen sie sich mit dem (Un)Gleichgewicht zwischen Unterdrücktem und Überlegenem, der Illusion des perfekten Arbeiters und damit, was man bereit ist, dafür zu tun, dem modernen Menschen im Bann von Apple (im Stück humorvoll in "pineapple-Corporation" umgetauft), Microsoft und Co. und der medizinisch kühlen Suche nach den warmen menschlichen Emotionen. Klingt vielversprechend, ist es auch, birgt aber einige Tücken und Stolpersteine, über die auch gestolpert wurde.

In "Euthanasiey", einem alten Originalstück des Grand Guignol, das von der studierten Regisseurin Youri Kim umgeschrieben und inszeniert wurde, hat ein trauernder Sohn die Erinnerungen seiner verstorbenen Mutter in einen Computer transferiert, der nun ebenfalls veraltet ist und zu "sterben" droht. Hier lauern einige Kalauer à la "Ihnen ist wohl eine Sicherung durchgebrannt" oder "Auf welcher Cloud leben Sie denn?". In "Die alte Frau", einer Überarbeitung des Guignol-Schockers "Die alten Frauen" von Regisseur Marc-Bernhard Gleißner, zieht die alte Prostituierte drei Stoff-Tentakeln aus ihrem Bustier und outet sich so vollends als "uralte Alienrasse".

Nachdem sie selbst etwas mit den Klettverschlüssen daran gekämpft hat, bringt sie sie auf ihrem jugendlichen Opfer an und saugt so das letzte Leben aus ihm heraus. In "Das Laboratorium der Halluzinationen", ebenfalls ein neu zusammengestellter Klassiker, und "Die Farbe aus der Cloud", in Anlehnung an Lovecrafts "Die Farbe aus dem All", erarbeitet von Alexander Kotz, und "Canasta", geschrieben von Petra Klink, greifen die Inszenierungen von Alexander Kotz, Ramón Jeronimo Wirtz und Petra Klink immer wieder auf stark sexualisierte oder ekelerregende Bilder zurück. Da wird einem Patienten im Laboratorium die Hand abgesägt, es folgt eine Vergewaltigungsszene, in der "Farbe aus der Cloud" verspeist eine Figur genüßlich die Innereien einer anderen, eine Sekunde nachdem sie sie noch liebkost hat.

Daneben gibt es auch viele gelungene Ideen: die gefühllose Pathologin in "Canasta" findet die gesuchten Emotionen in den toten Körpern ihrer Kartenrunde wie lange bunte Schnüre, die sie verspeist, um sie in sich haben zu können. Der ewige Wahn, möglichst schnell am Start zu sein, verkörpert in "Die Farbe aus der Cloud" durch eine junge Frau, die glaubt, mit ihren 15 Jahren zu spät für die "Vernetzung" zu sein, einem maschinell gesteuerten Reproduktionsvorgang, den frau eigentlich mit 14 Jahren hinter sich gebracht haben soll. Generell sind die Ideen hinter den Stücken wie Trauer, Sterbehilfe, Technikhörigkeit, mangelndes Gefühlsleben oder auch die teils perverse Suche nach Perfektion, große gewichtige Themen, mit einer intelligenten, ungewöhnlichen Herangehensweise aufgefangen. Das ergibt für einen Theaterbesuch eine Menge Anstoßmaterial, das man erst mal zerdenken muss.

Dieser Abend ist vor allem eines: ein großes Bekenntnis ans Theater, an den Willen, Geschichten immer wieder neu zu denken und zu erzählen, und die Freude am Spiel. 45 Laiendarsteller haben zwei Monate geprobt und sich an Stücke herangewagt, die die Zuschauer einst an die Theatersessel gefesselt haben. Unterstützt wurden sie von dem Profi Norman Stehr, der dem Abend als Oberster der Alienrasse meisterhaft den Schlussstein aufsetzt und so zeigt, dass Gänsehaut im Theater möglich ist.

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