Endlich Christine sein

TRIER. "Ja, die ,Neue Flora' ist eine ganz andere Geschichte", sagt Deborah Sasson und wirkt plötzlich traurig unter ihrem Lächeln. Eigentlich hätte sie schon damals die Christine werden sollen, die Christine. Nun reist sie mit einer Neuinszenierung des Musicals "Phantom der Oper" durch das Land. Gespräch mit einer Star-Sopranistin.

Ein schmaler dunkler Gang zwischen schwarzem Vorhang und schwarzer Wand. Zwei Grabsteine tauchen im Dunkel auf. Eben noch waren sie Teil einer gespentischen Friedhofsszene. Von Nebel umwabert hatten sie im Schwarzlicht fluoresziert, während Christine Gott am Grab ihres Vaters um ein Zeichen bat. Sie wartete dort auf ihren düsteren "Engel der Musik", besser bekannt als das Phantom der Oper. Jetzt stehen die Grabsteine falschherum. Sie sind aus Holz und das Kreuz über ihrem Sockel wird von einer Schraube zusammengehalten. Hinter dem Mischpult wird es wieder hell - und laut. In einem gekachelten Gang steht der Manager des Musicals, umringt von redenden Technikern, Männern, Frauen mit Instrumenten, in Kostümen, hin und herlaufend, Wasser trinkend, rauchend. Es ist Pause. In der Trierer Europahalle tritt das Ensemble an diesem Abend zum dritten Mal mit einer Neuinszenierung des Musicals "Phantom der Oper" auf. Weitere 90 Vorstellungen werden in den kommenden Monaten folgen. Vieles an der Neuinszenierung ist anders als in der berühmten Version von Andrew Lloyd Webber, wie sie mehr als sieben Millionen Menschen in der "Neuen Flora" in Hamburg gesehen haben: andere Musik, andere Texte, neue Figuren. Nur die Handlung ist ähnlich. Die schöne Christine, Sängerin an der Pariser Oper, steht zwischen zwei Männern: Raoul, den sie seit Kindertagen liebt und Erik, dem Entstellten, dem Phantom der Oper, das im unterirdischen Labyrinth der Pariser Oper verzweifelt hofft, durch sie aus seiner Einsamkeit befreit zu werden. Star des Abends ist Deborah Sasson. Nicht nur, weil sie die Christine singt - die Liste ihrer Erfolge ist lang: Broadway, Metropolitan Opera in New York, Bayreuth, die Rolle der Maria in der "West Side Story", ein Echo für das bestverkaufte Klassikalbum 2002... In einem Trägerkleid aus weißer Spitze sitzt die zierliche blonde Frau in der Garderobe, umgeben von Spiegeln, Perücken, Kostümen und einer Flut von Puderdosen, Kajal- und Lippenstiften. Auch wenn sie diesmal keine Zeit zum Verweilen hat, an Trier besitzt Sasson bereits schöne Erinnerungen. 2004, als sie mit der "Zauberflöte" in die Kaiserthermen kam, feierte sie hier ihren Geburtstag. Vielleicht liegt es daran, dass sie gebürtige Amerikanerin ist, vielleicht liegt es aber auch einfach in ihrer Natur: Deborah Sasson strahlt eine herzliche Offenheit aus, die eine Scheu vor dem Star in ihr gar nicht erst aufkommen lässt. "Christine macht mich ganz verrückt", sagt Sasson. Sie sei so wankelmütig, wolle beide, Raoul und das Phantom. Diese starke "Affektion" für das Phantom, ihre dunkle Seite, das komme bei Lloyd Webber nicht richtig heraus. Besser als bei Webber gefällt ihr an der Neuinszenierung daher, dass zwischen Christine und dem Phantom tief unter der Pariser Oper eine erotische Spannung entstehe. Trotz dieser Spannung, der erstklassigen Sänger, der unerwarteten Witzigkeit des Musicals und der bewegenden Duette - wer je das "Phantom der Oper" in dem gewaltigen Theaterhaus in Hamburg sah oder anderen beim Schwärmen zuhörte, mag die Europahalle enttäuscht verlassen haben. Statt der gewaltigen Bühnenbilder nur ein paar Grabsteine und eine einzige Treppe, die es mal von vorne, mal von hinten zu sehen gibt. Statt einer imposanten Theaterkulisse die mit Lüftungsrohren gespickten Wände der Europahalle. Statt der weltbekannten Lieder unbekannte Melodien."Es hat mir weh getan. Oder leid? Beides."

"Ja, die ,Neue Flora' ist eine ganz andere Geschichte", sagt Sasson und wirkt plötzlich traurig unter ihrem Lächeln. Ein riesiges Theaterhaus war 1990 eigens für das Musical errichtet worden. Eigentlich hätte sie die Christine werden sollen, die Christine, in Hamburg, an der Seite ihres Ex-Ehemanns Peter Hofmann. Doch dann kam die Scheidung. Sie löste den Vertrag und Anna Maria Kaufmann nahm ihren Platz ein. "Es hat mir weh getan, dass ich das damals nicht gemacht habe." Weh?, überlegt sie, oder leid? Beides. Nun endlich ist sie die Christine. Ein schmaler dunkler Gang. Gespenstisch weiß leuchtet die Maske des Phantoms. Der Schauspieler, der unter dieser Maske stecken muss, steht alleine, aufrecht, die Hände in der Hüfte. Langsam lässt er seinen Unterkörper kreisen, konzentriert, der Schauspieler - und bleibt dennoch das Phantom. Bald ist die Pause vorbei. Dann wird es Christine in sein dunkles Reich entführen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort