Erst kommt die Arbeit, dann der Spaß

MERZIG. Mit darstellerischen Glanzleistungen und einer sperrigen Inszenierung bringt die Merziger Zelt-Oper die "Dreigroschenoper" von Kurt Weill und Bertolt Brecht auf die Bühne. Ein Abend der gemischten Gefühle.

Es gibt Leute, die setzen mit der Premiere der "Dreigroschenoper" im Jahr 1928 die Geburtsstunde des Musical-Genres an. Wer die neue Merziger Produktion gesehen hat, käme allerdings nicht im entferntesten auf die Idee, das Meisterwerk von Brecht/Weill in Zusammenhang mit der gefälligen, populären Form des Musiktheaters im 20. Jahrhundert zu bringen. Regisseur Christian Colins Version der Geschichte des Gangsters Mackie Messer hat eher etwas mit absurdem Theater zu tun. Charaktere sind weniger gefragt als Überzeichnungen, die Handlung wird permanent durch Neben-Elemente kommentiert, konterkariert, manchmal aber auch einfach gestört. Das ist durchaus im Sinne des Erfinders: Der große Verfremder Brecht wollte alles andere als konsumierbares Theater.Nebeneffekte irritieren die Zuschauer

Unter den Bedingungen des Opernzelts gerät das Bombardement mit Nebeneffekten aber gelegentlich zum Stress. In der Mitte spielt die Handlung, rechts außen flimmern zwei Fernseher, links kriechen Gestalten durchs Bild, auf einer Leinwand werden wechselnde Sprüche projiziert, und das alles auf 20 Metern Breite, denn die Spielfläche liegt genau im Zeltradius. Was auf einer kompakten Bühne vielleicht einen faszinierend-irritierenden Kontrast ergäbe, zerfasert hier oft in ein undefinierbares Sammelsurium. Freilich gelingen auch grandiose Momentaufnahmen. Pollys mörderische Wunschträume von dem Schiff mit acht Segeln, dessen Besatzung die feixende Männermeute ringsherum ins Jenseits befördert, sind ebenso beeindruckend inszeniert wie das komische Eifersuchts-Duett zwischen Mackie Messers Lebensgefährtinnen und das bewegende, von Bildern aus Elendsquartiern begleitete "Salomo-Lied" der Hure Jenny (prägnant: Edda Petri). Auch um originelle Ideen ist Colin nicht verlegen. Nach der - diesmal im Chor gesungenen - Moritat von Mackie Messer lässt er minutenlang vom Kinder-Cassettenrecorder die Aufnahme nachklingen, bei der Bertolt Brecht höchstpersönlich mit schnarrender Stimme den Gassenhauer singt. Wenn Mackies Bande sich vor den Fernseher fläzt, läuft gerade Quentin Tarantinos "Reservoir Dogs", der Kult-Gangsterfilm der 90er-Jahre. Zur Hochzeit von Mackie und Polly flimmert das "Royal Wedding" von Prinzessin Anne und Mark Phillips aus dem Jahr 1973 über den Schirm - ausgerechnet die Heirat einer Tochter aus höherem Haus mit einem dubiosen Bräutigam. Das hat schon was, ebenso wie die Kontrastierung des "Erst kommt das Fressen, dann die Moral"-Songs mit einem Werbespot der Gottschalk-Brüder. Aber so hübsch die Aperçus im einzelnen sind: Ihr Überangebot sorgt dafür, dass die Stringenz verloren geht. Und weil die Spielleitung darüber hinaus mit allerlei nervenden Lach-, Schrei- und Jammerorgien tief in die Mottenkiste des Regie-Theaters greift, dauert der Abend inklusive Pause dreieinhalb Stunden - zu viel des Guten.Ein Ensemble, das manche Entdeckung bietet

Trotzdem geht man nicht frustriert nach Hause. Da ist das eigenwillig-skurrile Trash-Bühnenbild von Jean Bauer mit dem Sperrmüll-Mobiliar, das die Darsteller auf rollenbestückten Paletten von Szene zu Szene schieben. Da ist ein gut aufgelegtes, rhythmisch pointiertes, aufmerksam und sängerfreundlich agierendes Neun-Mann-Orchester unter der Leitung von Joachim Arnold. Und da ist ein engagiertes, spielfreudiges Ensemble, das mancherlei Entdeckungen bietet. Allen voran ist da die Polly Peachum von Serena Gruß zu nennen, eine enorm talentierte Newcomerin, die Erfahrungen aus der Musikszene mit großen darstellerischen Anlagen verbindet. Auch Ansgar Schäfers präsenter Mackie Messer überzeugt, ebenso wie Peter Zimmermanns zynischer Bettlerkönig Peachum. Bettina Kehle, Birgit Bücker und Jörg Heinrich in den weiteren Hauptrollen werden von der Regie zu sehr in undankbar-platte Klischee-Zeichnungen gepresst. Der Beifall am Schluss: für Merziger Verhältnisse eher höflich als enthusiastisch. An einer großstädtischen Avantgarde-Bühne hätte das vielleicht anders ausgesehen. Im Opernzelt wird es diese Produktion, die reichlich Konzentration und Gedanken-Arbeit erfordert, nicht leicht haben. Weitere Vorstellungen: 22. und 23. Mai, 16., 18.-20., 23. und 25.-27. Juni, Karten: (0681) 992680.

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