Familiengeschichte führt in die Zeit von Stalin und Hitler

Mit ihrer intimen Familiengeschichte bringt Natascha Wodin Licht in ein Leben voller Schrecken in den Diktaturen Stalins und Hitlers. Sie selbst kam als Kind ehemaliger Zwangsarbeiter zur Welt. Ihre bestürzende Spurensuche liest sich wie ein Krimi.

Familiengeschichte führt in die Zeit von Stalin und Hitler
Foto: (g_kultur

Es ist mehr als ein halbes Jahrhundert her, dass sich Natascha Wodins von Nazis aus der Ukraine verschleppte Mutter das Leben nahm. Gut 70 Jahre nach ihrer Geburt begibt sich die Autorin auf eine späte Spurensuche. Wer war ihre Mutter, die als Zwangsarbeiterin aus der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg in ein Arbeitslager in Leipzig kam? Ihre Mutter, die in der Ukraine erst die Hungersnot unter Diktator Josef Stalin und dann Hitlers Krieg überlebte und sich 1956 im Alter von 36 Jahren in den Tod stürzte.
In ihrem für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Buch "Sie kam aus Mariupol" zeichnet Wodin mit epochaler Sicht und sprachlicher Wucht Weltgeschichte an den Schicksalen ihrer Angehörigen nach - ein Roman, der zutiefst erschüttert.
"Um mich in den Augen der deutschen Kinder aufzuwerten, hatte ich ihnen erzählt, meine Eltern, für die ich mich so schämte, seien gar nicht meine wirklichen Eltern", schreibt Wodin. Lange haderte sie, die 1945 in Bayern als Kind heimatloser Ausländer zur Welt kam, demnach mit der eigenen Herkunft. Noch für das unveröffentlichte Manuskript erhielt sie bereits den Alfred-Döblin-Preis.
Es geht Wodin nicht vordergründig darum, die von der deutschen Politik erst spät beachtete brutale Ausbeutung der "Ostarbeiter" aufzuarbeiten. Vielmehr sind das schwierige Verhältnis zur eigenen Mutter und eine verborgene Trauer Ausgangspunkte für das tiefe Graben nach ihren ukrainisch-russischen Wurzeln. Diese beklemmende Reise in die Vergangenheit tritt Wodin von Berlin und Mecklenburg aus an. Und es sind vor allem die unerwarteten Momente und finsteren Entdeckungen, durch die sich das Buch stellenweise wie ein Krimi liest.
Über das Internet und mit Hilfe eines russischen Stammbaumforschers spürt Wodin entfernte Verwandte in der Ukraine und in Russland auf. Puzzle um Puzzle entsteht das Bild einer Familie, die mit jedem alten Foto, mit jeder Erinnerung auch ihre eigene wird. Eine einst wohlhabende Familie, die im Zuge der Revolutionen in Russland vor 100 Jahren und der Machtergreifung der Kommunisten alles verliert. Diese Menschen machen in der ostukrainischen Stadt Mariupol Terror und Säuberungen, Hunger und Krieg durch.
Es ist jener Ort am Asowschen Meer, der auch im Zuge der Kämpfe prorussischer Separatisten in der Ukraine zuletzt in die Schlagzeilen geriet. Wodins Suche fällt in eine Zeit, da sich die Ukraine einmal mehr von Russland lösen will - und wie ehedem hin- und hergerissen ist zwischen der russischen und der ukrainischen Sprache. Auch so gelingt es Wodin, Historisches fast zum Anfassen nah in die Gegenwart zu holen. Es ist eine große, aber auch unendlich traurige Familiengeschichte, weil es für die Protagonisten oft wenig Hoffnung und schon gar keine Gerechtigkeit gibt.

Ulf Mauder (dpa)

Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol, Verlag Rowohlt. 2017. Reinbek bei Hamburg. 368 Seiten, 19,95 Euro.

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