Fasziniert vom Abgrund Willkommen im Oberhaus!

Spektakulärer könnte der Erfolg für einen zeitgenösssichen Komponisten wahrscheinlich nicht mehr sein. Die Berliner Philharmoniker bescherten dem Auftragswerk "Heart of Darkness" des Trierers Christian Jost in der Hauptstadt-Philharmonie eine bewegende Uraufführung. Mit der Uraufführung von "Heart of Darkness" ist Christian Jost ganz oben in der Rangordnung der zeitgenössischen Komponisten angekommen. "Eine absolute Sternstunde", sagte er nach dem Konzert.

Berlin. Menschliche Abgründen faszinierten ihn, hatte Christian Jost im Einführungsgespräch erklärt. Entwickelt sich die Komposition "Heart of Darkness", die am Dienstag in der Berliner Philharmonie uraufgeführt wurde, wirklich zu der finsteren Reise, die der erst poetische und dann fast bürokratische Untertitel "Odyssee für Klarinette in B und Orchester" ankündigt? Joseph Conrads Erzählung, zu deutsch "Herz der Finsternis", ist nicht gerade eine Spaßgeschichte. Sie schildert das Schicksal einer halb mysteriösen Hauptfigur deren Existenz mit den letzten Worten "Grauen, Grauen" verlischt. Und zweifellos: Christian Jost zeichnet diese Odyssee ins schreckliche Innere mit einem bemerkenswerte Einfallsreichtum nach. Aber auch wenn die Komposition vom Chaos erzählt, sie selber ist nicht chaotisch. Jost, der in seiner Musik häufig mit menschlichen Grenzsituationen operiert, hat ein hoch expressives und doch fast klassizistisch ausgewogenes Stück geschrieben - strukturiert und organisch zugleich. Schon der erste Abschnitt, der den Solisten ausspart und dadurch wirkt wie das Orchestervorspiel eines klassischen Konzerts, erhält bei Sir Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern das Weiträumige, Atmende, das diese Komposition so nah an die Gefühlswelt der Hörer rückt. Die großen Ruhepunkte sind Atempausen, aber sie gliedern auch den erzählenden Fluss der Musik. In der Solopartie begegnen sich zwei kongeniale Künstler: Ein Komponist, der die Melodik aus dem Vokalcharakter der Klarinette, aus der Menschenähnlichkeit ihres Klangs entwickelt hat und mit Karl-Heinz Steffens ein Instrumentalist, der die extrem hohen Anforderungen in größte Ausdrucksspannung umsetzt und der bei aller Virtuosität die Linie der Melodie nachzeichnet. Dabei ist es keineswegs nur das Verdienst der großartigen Berliner und ihres Chefs, wenn der Orchesterklang trotz aller Klangfülle n icht lärmt oder schreit. Jost hat die Wucht des großen Orchesterapparats genutzt, aber daneben Übergänge, Mischungen, Gleichklänge und fein abgestufte Kontraste auskomponiert.Orchester mit Charakter und Seele

"Heart of Darkness" ist auch ein Meisterstück kammermusikalischer Verflechtungen, Verbindungen aus Solo-Klarinette, den übrigen Holzbläsern und den Solostreichern. So entsteht eine nachgerade romantische Verbindung aus Klangentfaltung und Intimität. Die Musik spricht. Und selbst die abschließende Passage, selbst diese von großer und kleiner Trommel martialisch hochgepeitschte Finalgruppe, behält dabei Konturen, behält ein akustisches Gesicht. Mit Mahlers Zehnter in der Version von Deryck Cooke kehrte nach der Pause so etwas wie der Berliner Philharmonie-Alltag ein. Aber was für ein Alltag mit einem Orchester, das nicht nur Charakter hat, sondern Seele, und mit einem Dirigenten, der die Musik fließen lässt und ihr doch Kraft, Gewicht und tiefen Ausdruck mitgibt! Und welch sensible Ergänzung zu Josts spannungsreichem und konturenstarken Psychogramm! Das Konzert ist heute, Freitag, 9. November, um 20 Uhr auf "Deutschlandradio Kultur" zu hören.

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