Gefahr aus der Schatzkiste

TRIER. Mit der erstmaligen Aufführung der "Nordischen Ballade" von Manfred Gurlitt hat das Theater Trier seine Ausgrabungs-Reihe "Unbekannte Opern" fortgesetzt. Das Publikum feierte die Uraufführung mit langem Beifall.

 Ein Stück von Liebe, Schuld und Aufopferung: Szene mit Eva-Maria Günschmann als Elsalill und Andreas Scheel als schottischer Söldner Sir Archie.Foto: Willi Speicher

Ein Stück von Liebe, Schuld und Aufopferung: Szene mit Eva-Maria Günschmann als Elsalill und Andreas Scheel als schottischer Söldner Sir Archie.Foto: Willi Speicher

Ob derKomponist Manfred Gurlitt gewollt hätte, dass seine "NordischeBallade" in Trier dem Vergessen entrissen wird, kann natürlichniemand sagen. Seine Witwe, eigens aus Japan zur Premiereangereist, verriet jedenfalls, ihr Mann habe zu Lebzeiten dasWerk nie erwähnt. Es lagerte in einer verschlossenen"Schatzkiste" unterm Bett. Vielleicht kannte der renommierte und erfahrene Musiker einfach die Schwächen seiner Oper: eine oft holzschnittartige musikalische und szenische Charakterisierung und eine nicht sehr organisch aufgebaute Struktur, bei der sich enorme Spannungsbögen und allerlei Füllmaterial ablösen - wie bei einem Auto, das abwechselnd Vollgas und Leerlauf fährt.

Stark sind die dramatischen Ausbrüche und die emotionalen Momente, die Gurlitt setzt. Andreas Henning treibt mit der von Chorleiter Eckhard Wagner rekonstruierten Partitur das Städtische Orchester zu einer kompakten, manchmal atemlosen Leistung, die keine Wünsche offen lässt.

Erinnerungen an die "Winterballade"

Trierer Theaterbesuchern, die über ein gutes Gedächtnis verfügen, wird der Abend als "Déjà-vu-Erlebnis" erschienen sein. Vor neun Jahren präsentierte Reinhard Petersen die nicht minder rare Oper "Winterballade" von Jan Meyerowitz, die auf der gleichen Erzählung von Selma Lagerlöf basiert, allerdings in einer Bearbeitung von Gerhard Hauptmann.

Was bei Meyerowitz als filigrane, fast psychoanalytische Auseinandersetzung um Schuld und Sühne über die Rampe kam, ist bei Gurlitt eine expressive, auf grelle Effekte und düstere Stimmungsbilder setzende Krimi-Geschichte aus dem hohen skandinavischen Norden. Susanne Thaler hat dafür ein grandioses, expressionistisch inspiriertes Bühnenbild gebaut, dessen schräge Mauern und steile Stiegen mit dem Fortgang der Handlung immer schräger und steiler werden - so wie die handelnden Personen immer mehr in Schräglage geraten. Fantastisch gemalte Prospekte und Licht, das die beängstigend drückende Atmosphäre unterstreicht, machen die Aufführung zu einem optischen Erlebnis, auch wenn die Umbauten bisweilen stören.

Es beginnt mit einem Blutbad: Drei schottische Söldner rauben den Goldschatz des gestrengen Pfarrers Arne und geraten dabei in einen Tötungsrausch wie die "Natural born Killers" im amerikanischen Spielfilm - nur dass sich hier alles im Halbdunkel abspielt. Düsternis legt sich wie Blei über die Szenerie in der gesamten, stimmungsstarken Inszenierung von Heinz Lukas-Kindermann. Das Mädchen Elsalill überlebt das Massaker, fortan heimgesucht von Rache-Engeln aus dem Totenreich, ebenso wie der alte Fischer Torarin (prägnant: Nico Wouterse).

Die tot geglaubten Verbrecher kehren an den Ort ihrer Tat zurück, Elsalill erkennt sie nicht. Sie verliebt sich in einen von ihnen, verrät ihn aber, als sie seine Schuld begreift. Dennoch opfert sie sich für ihn auf, als die Polizei ihn festnehmen will. Sie stirbt, ihr Geliebter verzweifelt, seine Komplizen werden bei der Flucht verhaftet - alles Verlierer, geblendet von Arnes "verdammtem Schatz", den sie bis zuletzt in einer Kiste mit sich herumschleppen.

Darstellerische Präsenz, stimmliche Leistung

Das klingt widersprüchlich bis konfus, ist es manchmal auch. Aber dann kommt Eva-Maria Günschmann als Elsalill und verwandelt Noten auf Papier in einen fühlenden Menschen, in ein anrührendes, tragisches Schicksal. Da ist nicht nur enorme darstellerische Präsenz, da ist auch eine große stimmliche Leistung, vor allem angesichts der Tatsache, dass ihr Töne abverlangt werden, die einen weniger brillanten Mezzosopran an den Rand seiner Möglichkeiten brächten.

Andreas Scheel als ihr Geliebter und Gegenspieler Sir Archie leidet anfangs unter der gar zu plakativen und eindimensionalen Darstellung der drei "Bösewichte", die es schwer macht, den Wandel zum Liebenden glaubhaft werden zu lassen. Später gewinnt er an Profil, gestaltet vor allem die fast arien-artigen Elemente seiner Rolle überzeugend.

Das weitere Ensemble (László Lukács und Horst Lorig als Räuber, Juri Zinovenko, Angelika Schmid und Annette Johansson als Pfarrers-Familie) ist in guter Form. Die Chorsänger haben die Gelegenheit, eine Fülle kleinerer Solo-Rollen zu übernehmen - eine Aufgabe, die sie vorzüglich meistern, beispielhaft sei Hee-Gyong Jeong als Wirtin genannt.

Es gibt also einige gute Gründe, sich die "Nordische Ballade" anzusehen. Einen weiteren deutete Intendant Lukas-Kindermann bei seiner Einführung an: Gurlitts Oper könnte angesichts der Finanzlage die letzte in der verdienstvollen, aber aufwändigen Reihe von Ausgrabungen am Trierer Theater sein.

Die nächsten Aufführungen: 20. Mai, 6. u. 14. Juni; Karten: (0651) 718-1818.

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