Genie am Pult: Von der Schlichtheit wahrer Größe

Luxemburg · Einer, der schon zu Lebzeiten Legende ist, hat am Dienstag in der Philharmonie Luxemburg am Dirigentenpult gestanden. Vor 1300 jubelnden Zuhörern musizierten dort Riccardo Muti und das Chicago Symphony Orchestra. Höhepunkt des Abends: Alexander Skrjabins 3. Symphonie.

Luxemburg. "Geistige Größe zeigt sich nicht in Prachtentfaltung, sondern in Einfachheit", hat er einmal gesagt. Was Riccardo Muti damit meint, war am Dienstag einmal mehr in der Philharmonie in Luxemburg zu erleben. Der Italiener, für den das Dirigentenpult eine Insel der Einsamkeit bedeutet, ist einer der ganz Großen seines Fachs, zudem ein echter Maestro der alten Schule.
Manch einer hält den 1941 geborenen Chefdirigenten des Chicago Symphony Orchestra sogar für den letzten Herrscher am Pult des Orchesterchefs nach Herbert von Karajan. Das mit dem Herrschen mag durchaus hinkommen, aber nicht im Sinne aufwendig zelebrierter Selbstherrlichkeit. Wenn Muti herrscht, dient er.
Sein Amt ist ihm Dienst am Werk wie an der Kunst selbst. Als unbestechlicher Treuhänder der Musik, voller Hingabe an sie und von ihr durchdrungen, zeigte sich Muti auch in Luxemburg. Leicht vorstellbar war, was seine Musiker in respektvoller Zuneigung von ihm berichten. Streng sei er, unerbittlich in der Sache, und wunderbar sensibel für Melodie und Klang. Ein Perfektionist, der sich selbst keinen Augenblick schone und bis zur Erschöpfung an jeder Schattierung, jedem Tempo feile.
Und auch jene Kompromisslosigkeit war spürbar, die den Sohn eines Arztes und einer Sängerin kennzeichnet, der bekanntlich nicht zögert, kurzerhand hinzuschmeißen, wenn er nicht hinter seiner Arbeit stehen kann. In seinem eleganten Frack steht der "Cavaliere del Gran Croce" oben in Luxemburg am Pult, sein Dirigat ist Präzisionswerk, klar, analytisch, stets darauf angelegt, die Logik des Stücks und seine innere Dynamik als Klang und Rhythmus hör- und fühlbar zu machen. Wer Mutis exakte Handbewegungen verfolgt, kann quasi mit den Augen voraushören, was gleich gespielt wird.
Meister mit scheuem Lächeln


Entwicklung der eigenen Person wie der musikalischen Reife: Darin besteht eine weitere lebenslange Herausforderung für den über Siebzigjährigen, der von sich berichtet, dass er im Grunde scheu sei. Sein Lächeln bleibt auch in Luxemburg freundlich, aber zurückhaltend.
In die Philharmonie hatte der Dirigent ein Werk mitgebracht, das nicht nur allerbestens für die Symphoniker aus Chicago mit ihrem berühmten Bläsersatz geeignet war, sondern das auch zu jenen Stücken gehört, mit denen sich Muti seit langer Zeit auseinandersetzt. Als Höhepunkt des Abends stand Alexander Skrjabins 3. Symphonie "Le Divin Poème" auf dem Programm. Vom Aufbegehren des Menschen gegen die göttliche Autorität und seiner Befreiung daraus, ist in dieser Symphonie, die von der Philosophie Friedrich Nietzsches inspiriert ist, musikalisch die Rede. "Ich bin selbst Gott", soll Skrjabin gesagt haben.
Muti verzichtete auf alles Mystische, alles "Übermenschliche". Mutis Größe heißt eben Einfachheit. Mit weitem Atem und nachdenklicher Langsamkeit ließ der Dirigent spielen, ohne jemals langatmig zu werden. Eine einzige, wunderbare Wellenbewegung aus Ebbe und Flut voller Unterströmungen war sein symphonisches Gedicht, dessen auf- und abschwellende Wogen die Zuhörer davontrugen, bevor sie sich zur großen Woge aufbäumten und donnernd entluden. Die Musiker aus Chicago waren großartige Bildgestalter, mit ihren klaren Trompeten, deren Leitmotiv sich durchs ganze Stück zog, den feinnervigen Geigen, den pochenden Bässen und dem gewaltigen Schlagwerk. Wunderbar die erste Geige. Als faszinierende Poeten und Tonmaler hatten sich Orchester und Dirigent bereits zu Beginn mit Peter Tschaikowskys Fantasie zu Shakespeares "Sturm" und Claude Debussys symphonischen Skizzen "La Mer" eingeführt.

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