Historie Geschichte: Trierer Experte zur Völkerwanderung

Trier · Römer, Hunnen, Germanen: Innerhalb weniger Jahrzehnte zerfiel die Macht des Römischen Reiches im Westen Europas - als Folge von Barbaren-Invasionen oder aufgrund innerer Wirren?

Zwischen 378 nach Christus und 476 brechen Germanen ins römische Reichsgebiet, errichten eigene Königreiche. Die Völkerwanderung gilt heutzutage als eine Übergangsepoche, die von der Antike zum Mittelalter überleitet. In Wirklichkeit ist der Zeitraum viel größer. "Es war eine Migration kleinerer und größerer Gruppen über Jahrhunderte", sagt der Trierer Historiker Christoph Schäfer. "Sie wurde aus Asien und dem nordeuropäischen Raum angestoßen. Häufig waren es germanische Verbände, die sich auf die (römische) Reichsgrenze zubewegten, diese überschritten und Nachfolgereiche errichteten."
Denn tatsächlich war das, was heute gemeinhin als eine kontinuierliche Abfolge von Feldzügen und Völkerbewegungen innerhalb weniger Jahrzehnten betrachtet wird, in Wirklichkeit eine regional unterschiedlich ausgeprägte Entwicklung, die sich über einen wesentlich längeren Zeitraum abspielte. Seit Gründung Roms versuchten immer wieder germanische Stämme aus Mittel- und Nordeuropa, im warmen (und reichen) Süden des Kontinents Fuß zu fassen - Rom lockte sie gewissermaßen mit seinem Wohlstand und seiner Organisation an.
Schon um 100 vor Christus dringen die Stämme der Kimbern und Teutonen auf römisches Gebiet vor, auf der Suche nach einem Siedlungsgebiet. Sie werden vernichtend geschlagen. Nach der Niederlage des Varus und dem Scheitern der Expansion östlich des Rheins errichtet das Römische Reich den Limes, einen Grenzwall zum Schutz seiner Provinzen. Im Markomannenkrieg (166 bis 180 nach Christus) bekämpft Rom mehrere Stämme an der Donau, um deren Grenzübertritt zu verhindern. Am Rhein siedelt es verbündete Stämme an, damit diese als Puffer vor dem Limes die Grenze beschützen.
375 nach Christus schließlich fallen die Hunnen in Osteuropa ein. Sie unterwerfen die Ostgoten und zwingen die Westgoten, die an der Donau siedeln, zur Flucht auf römisches Gebiet - es ist der Beginn der eigentlichen Völkerwanderung. Und dies alles muss vor dem Hintergrund innerer Konflikte gesehen werden. Roms Kaiser sehen sich wiederholt Armeerevolten und Gegenkaisern ausgesetzt. "Die Völkerwanderung war nicht die alleinige Ursache des Untergangs. Ein wirtschaftlicher Rückgang und damit geringere Staatseinnahmen, höhere Kosten für Soldaten und zahlreiche Bürgerkriege destabilisierten das Reich. Dazu kommt der Abzug der Truppen von der Grenze", erklärt Schäfer - weil sie anderswo in inneren Auseinandersetzungen oder zur Abwehr an einem anderen Teil der Grenze benötigt werden.
Die Römer machten zudem gelegentlich Fehler, plünderten die Neuankömmlinge teilweise aus, was diese zur Gewaltanwendung trieb. Später siedelte man sie in geschlossenen Verbänden im Reich an - so entstand ein Staat im Staat. Das war erstmals der Fall mit den geflüchteten Goten. Sie rebellierten nach ihrer Aufnahme gegen unhaltbare Zustände, woraufhin die Römer ein Bestrafungsheer schickten - das in der Schlacht von Adrianopel vernichtet wurde. 382 nach Christus werden die Goten "Föderaten" - Bündnisgenossen der Römer, aber mit eigenem Herrschaftsgebiet auf römischen Boden, auf dem Balkan. Rund Hundert Jahre später wird der letzte weströmische Kaiser abgesetzt - von einem Germanenfürsten namens Odoaker, der sich König von Italien nennen wird. Rom ist (zumindest) im Westen Geschichte, auf Odoaker folgt in Italien Teoderich, der Ostgotenkönig, danach Lombarden (nach einer zwischenzeitlichen Rückeroberung durch Ostrom), dann der Papst, Araber, das Frankenreich Karls des Großen, schließlich die mittelalterlichen Kaiser aus Deutschland. Ein Untergang?
Der Niedergang sei regional sehr unterschiedlich einzustufen, viele Zeitgenossen dürften die Veränderungen nicht als 'Untergang' wahrgenommen haben, ist der Trierer Historiker überzeugt. So sahen sich die germanischen Invasoren nicht als Zerstörer des Römischen Reiches, sie wollten vielmehr am Reichtum und Glanz Roms partizipieren. Als Gotenkönig Alarich 410 nach Rom zieht und plündert, geschieht dies aus Notwendigkeit (seine Truppen hungern) und aus Zorn über die Weigerung der römischen Kaiser, ihn als römischen Heermeister anzuerkennen - also ins politische Machtsystem aufzunehmen. Seiner Armee schlossen sich auch viele Sklaven und Germanen an, die in Italien lebten, sich aber nach der Ermordung des germanisch-römischen Heermeisters Stilicho und Ausschreitungen gegen ansässige Goten mit Alarich verbünden. Selbst der Feldzug Attilas gegen das geschwächte Weströmische Reich in Gallien dürfte nach Meinung des deutschen Wissenschaftlers Timo Stickler ("Die Hunnen", 2007) darin begründet liegen, dass der Hunnen-Herrscher neben der Aussicht auf Beute als Mitglied des politischen Machtsystems anerkannt werden wollte - eine Affäre um die Hilfe suchende Schwester des weströmischen Kaisers Valentinian III. könnte ihm als Vorwand gedient haben.
Andere Beispiele nennt Schäfer: Als der Ostgotenkönig Teoderich den Odoaker angreift und formell im Namen Ostroms Italien unterwirft, behält er die bisherigen Staatsstrukturen Westroms bei, der römische Senat bleibt beispielsweise erhalten. Rom sei von religiöser Toleranz, Bürgerrechten für die Einwohner und Loyalität zum Kaiser geprägt gewesen. So habe etwa Konstantin schon als Heide in kirchlichen Streitigkeiten Entscheidungen getroffen. Und der zwar christliche, aber der arianischen Glaubensrichtung anhängende Theoderich entschied bei einer Doppelwahl zweier Päpste darüber, wer der rechtmäßige Papst sei. "Die Antike kannte keinen Nationalismus", der sei eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, sagt Historiker Schäfer und verweist auf den früheren römischen Kaiser Trajan, der in der spanischen Provinz geboren wurde, oder den Halbvandalen Stilicho, der Roms Truppen führte.
Unzweifelhaft hat die Völkerwanderung Tod und Verderben über die jahrelang unter der Pax Romana lebenden Bürger des Römischen Reiches gebracht. Allein Trier, noch fünfzig Jahre zuvor blühende Kaiserresidenz, wird zwischen 410 und 451 vier Mal geplündert. Die Tatsache, dass Rom eine (zunehmend kleinere) Berufs- statt einer Bürgerarmee unterhielt, wie der britische Historiker Bryan Ward-Perkins in seinem Buch "Der Untergang des Römischen Reiches" (2007) anmerkte, könnte zudem erklären, warum relativ kleine Germanenverbände eigene Herrschaften über einer weitaus größeren Bevölkerung errichten konnten. Das Bild massenhaft einfallender Krieger, Frauen und Kinder, die den ansässigen Römer vertreiben, stimmt jedenfalls nicht so: Die Alt-Bevölkerung dürfte geblieben sein, sagt Schäfer. "Die Neuankömmlinge integrieren sich, es gibt kaum so etwas wie Vertreibung."
Die Historiker stützen sich auf antike Quellen und archäologische Funde, wenn es um die Epoche der Völkerwanderung geht. So bringt der Fund von Rülzheim möglicherweise den Beweis für die die bislang nur aus Schriftquellen bekannte Anwesenheit von Hunnen in Rheinland-Pfalz. Doch noch ist etliches im Unklaren, sagt Schäfer. "In den letzten beiden Jahrzehnten ist intensiv geforscht worden, aber es ist noch viel zu tun. Ein Thema sind zum Beispiel die wirtschaftlichen Veränderungen der damaligen Zeit: Wohin gehen die Waren, wie weit ging der Handel weiter? Existierten noch römische Strukturen?" So gebe es Villen, die offensichtlich weiterbetrieben wurden, mit einer kleinteiligen Bewirtschaftung und einer privaten Armee, während andere Landgüter in der Nachbarschaft zerstört wurden.

Zur Person: Christoph Schäfer ist Professor im Fachbereich III (Alte Geschichte) der Uni Trier. Seine Schwerpunkte sind die Spätantike und die Völkerwanderung, insbesondere die antike Schifffahrt.

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