Geschichtsunterricht

TRIER. Auf Einladung der Buchhandlung "Interbook" stellte die Schriftstellerin Ulla Hahn ihren Roman "Unscharfe Bilder" vor. Darin konfrontiert eine Tochter ihren Vater mit dessen Vergangenheit als Soldat der deutschen Infanterie im Russlandfeldzug des Zweiten Weltkrieges.

Ist es der Vater? Auf einem der Bilder, die Katja in der Wehrmachtsaustellung "Verbrechen im Osten" mustert, glaubt sie, ihn zu erkennen: den von ihr so sehr verehrten, Vater, Oberstudienrat Hans Musbach. Die Ahnung fesselt Katja. Klarheit muss her. Die kann ihr nur der Vater selbst verschaffen. Doch seine Erinnerungen an den Russland-Feldzug, an dem er als gewöhnlicher Soldat der Infanterie teilnahm, zeichnen keine Bilder von Massenmorden, sondern Szenen des Grauens an der Front: Strapazen, Elend, Hunger, Frost. Dennoch bedrängt ihn die Tochter, deren eigene Bilder von Täterschuld allerdings angesichts der Wahrheit Hans Musbachs immer mehr verschwimmen. "Doch ist das Unscharfe nicht gerade das, was wir brauchen?", fragt die Autorin dieses Romans deshalb mit einem Zitat Ludwig Wittgensteins. Ulla Hahn hat damit ein Buch vorgelegt, das die dunklen Vergangenheiten des Nationalsozialismus ins Bewusstsein der Gegenwart zerren will, den Roman "Unscharfe Bilder". Als sie im Trierer Museum Simeonstift Auszüge aus diesem las, stellte sie vor allem dessen Perspektiven vor: den Blickwinkel des Vaters und den Drang der Tochter, Gewissheit zu erlangen. Kaum zufällig haben beide Figuren die gleiche Berufung. Während er Lehrer im Ruhestand ist, unterrichtet sie an einem Gymnasium. Auch der Roman trägt Schulstundencharakter. Ein Kapitel jüngster deutscher Geschichte wird bisweilen didaktisch durchgepaukt. Ulla Hahn ist schließlich promovierte Germanistin. Sie war Lehrbeauftragte an den Universitäten von Hamburg, Bremen und Oldenburg und konnte die Poetik-Dozentur in Heidelberg übernehmen. Am Vorlesetisch im Museum Simeonstift wirkte sie überlegt, ernsthaft und bedacht. Nach Ende der eigentlichen Lesung jedoch schreckte sie regelrecht auf. Eine Besucherin aus dem Publikum hatte sie gebeten, eines ihrer Gedichte vorzutragen. Ulla Hahn rezitierte sogleich mehrere Verse. "Nehmen Sie Gedichte als Partitur", meinte Ulla Hahn. "Nehmen Sie ein Gedicht in den Mund, und Sie erfahren einen neuen Zugang zur Lyrik." Am Ende gab es also doch noch eine kleine, herzliche Schulstundenlektion. Ulla Hahn: "Unscharfe Bilder". Deutsche Verlags-Anstalt. München 2003. 279 Seiten. 18 Euro

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