Gipfel der Gleichberechtigung?

Früher kämpften Frauen um ihr Recht zu wählen. Heute entfachen Romane über Hämorrhoiden Debatten über einen neuen Feminismus. Es hat sich viel getan seit der Einführung des Frauenwahlrechts vor 90 Jahren. Aber haben auch alle immer die Wahl?

Trier. "Was fällt dir zu 90 Jahren Frauenwahlrecht ein?" Stellen Sie diese Frage mal in ihrem Umfeld. Sie werden statt einer Antwort nur ein Achselzucken ernten. "Normal eben." Für Jüngere so selbstverständlich wie ein Handy. Immerhin regiert eine Kanzlerin seit fast genau drei Jahren das Land. Der Gipfel der Gleichberechtigung scheint erklommen. Nach der Festlegung des Frauenwahlrechts in der Weimarer Verfassung am 12. November 1918 (siehe Extra) ist vieles passiert, das Angela Merkel den Weg bereitet hat. Die Öffnung der Universitäten (zu Beginn des 20. Jahrhunderts), die Antibabypille, die 68er, die Frauenbewegung, die Beharrlichkeit einzelner. Worüber heute in einer Demokratie in Sachen mangelnder Emanzipation geklagt wird, scheint - gemessen an dem Fehlen dieses fundamentalen Rechts - schales Luxusjammern. Frauen haben doch offenbar die Wahl alles zu tun, was sie möchten.

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist einer christdemokratischen Familienministerin eine Herzensangelegenheit. Die siebenfache Mutter Ursula von der Leyen zieht das Elterngeld und ihre Karriere durch. Gemocht wird sie deswegen nicht unbedingt. Ihr eifriger Perfektionismus kommt gerade bei ihren Geschlechtsgenossinnen oft nicht gut an. Sie ist ein Hyper-Vorbild, das auch noch die Figur hält. Denn viele Frauen fühlen sich nicht, als hätten sie die Wahl.

Frauen werden bei gleicher Leistung oft schlechter bezahlt.

Die Anzahl der Frauen in Führungsebenen liegt weit hinter der der Männer zurück.

Frauen kümmern sich meistens um die Kindererziehung. Viele Alleinerziehende leben vom Staat.

Altersarmut ist in der Mehrzahl weiblich, weil Frauen oft (soziale, pflegerische) Berufe ergreifen, die nicht hoch bezahlt werden, und wegen der Kindererziehung deutlich weniger fürs Alter vorsorgen.

In den Köpfen junger Männer ist laut einer Studie das traditionelle Rollenbild mit dem Mann als Ernährer der Familie fest verankert. Berufstätige Mütter leiden oft unter dem Ruf, eine Rabenmutter zu sein.

Frauen haben keine leichte Wahl.

Die jüngere Generation gibt sich nicht mehr mit diesen schweren Frauen-Themen ab, weil sie glaubt, dass alles erreicht und Emanzipation eine Fundsache auf Großmutters Dachboden sei. Was fesselt, sind Schilderungen von Hämorrhoiden und Körperflüssigkeiten. Charlotte Roches Roman "Feuchtgebiete" schlug ein wie eine Bombe (schon im Frühsommer 450 000-mal verkauft) und provozierte außerdem eine Diskussion über einen neuen Feminismus: "Provokation oder neues Selbstbewusstsein? Was steckt hinter dem Bestseller? Eine Expedition in die Feuchtgebiete des Feminismus", schrieb der Stern. Scharen pilgerten in Roches Lesungen: Was für die einen eine Offenbarung war, war für die anderen Schund. Aber feucht ist nicht gleich feminin. Hat Alice Schwarzer überhaupt ein Wort über das Buch verloren?

Eine Wahl aus taktischen Gründen



Und was ist mit den Frauen, die sich zur Wahl stellen?

Andrea Ypsilanti forderte in Hessen das Schicksal heraus. Sie unterschätzte die Wackelpartie und kalkulierte wahrscheinlich nicht ein, dass viele (auch gerade Frauen) Frauen ohnehin keine Kompentenzen zutrauen und ihnen keine Fehler (wie Wortbrüche) verzeihen. Und was ist mit Sarah Palin? Sie hält Afrika für ein Land, betete gestern noch für eine Karriere in Washington, und wer weiß, was sie im Falle eines Sieges als Vize von John McCain alles in Amerika in die Wege geleitet hätte, was der freien Wahl von Frauen nicht gut getan hätte? Und das nur, weil Menschen auch manchmal nur aus taktischen Gründen zur Wahl gestellt werden.

90 Jahre Wahlrecht für Frauen in Deutschland - der richtige Tag, daran zu erinnern, dass es nicht selbsverständlich ist, die Freiheit der Wahl zu haben.

EXTRA

Kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zeigte der jahrzehntelange Kampf verschiedener Frauenverbände - vor allem sozialdemokratischer - seinen ersten Erfolg: Am 12. November 1918 wurde das Frauenwahlrecht vom Rat der Volksbeauftragten erlassen. In der Weimarer Verfassung wurde das Wahlrecht für Männer und Frauen ab dem 20. Lebensjahr gesetzlich verankert. Am 19. Januar 1919 bei der Wahl zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung hatten Frauen erstmals das aktive und passive Wahlrecht. Mehr als 80 Prozent gaben ihre Stimme ab. 41 Frauen zogen in die Nationalversammlung ein und stellten damit 9,6 Prozent der Abgeordneten.

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