Heimatloser auf der Suche nach dem Platz im Leben

Trier · Die Geschichte ist aus heutiger Sicht unfassbar: Ein Inuitjunge und seine Verwandten werden von einem Forscher in die USA verschleppt und dort im Museum zur Schau gestellt. Bis auf Minik sterben alle, der Junge ist fortan hin- und hergerissen zwischen seiner und der modernen Welt. Das Stück "Minik" des Nationaltheaters Grönland berührt. Sein Thema, die Suche nach Heimat in der Fremde, ist zudem hochaktuell.

Trier. Der Wind pfeift kalt über die Ebene. Hunde jaulen und hecheln. In der Nähe singt jemand ein Lied. Die bleiche Projektion einer Landschaft aus Schnee und Eis wandert über die Wand des Studios im Theater Trier. Ein Tonbandgerät spielt das Hundejaulen und Windpfeifen in Dauerschleife ab. Die Gesänge und Geräusche der eisigen Landschaft kommen aus den Kehlen und Mündern von vier grönländischen Schauspielern. Miké Thomsen, Majbritt Bech, Hans Henrik Poulsen und Klaus Geisler sind aus dem hohen Norden gekommen, um ihr Stück "Minik", das 2014 am Nationaltheater Grönland uraufgeführt wurde, in Trier als Gastspiel zu präsentieren.

Die Geschichte von Minik ist ergreifend und erschreckend, und trifft beim Trierer Publikum beruhigenderweise auf Verständnislosigkeit. So fern ist dem modernen Menschen die Vorgehensweise früherer Generationen.
1888 wurde Minik in Thulé geboren, in eisiger Kälte, als Sohn eines Jägers, in einer Gesellschaft, die kein Geld kennt. Der Polarforscher Robert Peary bringt den Neunjährigen zusammen mit seinem Vater und anderen Mitgliedern des Dorfes von einer Arktisreise mit nach New York ins American Museum of History. Zu Forschungszwecken.

Wenige Wochen später sind bis auf Minik alle Inuits tot, gestorben an Tuberkulose. Dem Jungen gaukeln die hohen Herrschaften ein Begräbnis im Garten des Museums vor. In Wahrheit behalten sie den Körper seines Vaters, um ihn zu sezieren, zu untersuchen, sein Fleisch von den Knochen zu trennen, das Gehirn in einem Glas aufzubewahren und das Skelett, mit einem Namensschild versehen, in einer Vitrine des Museums auszustellen.Fremder zwischen zwei Welten


Jahre später entdeckt der Jugendliche Minik im Museum die Überreste seines Vaters und kehrt der modernen Welt den Rücken. Er schafft es über unbekannte Wege zurück in die eisige Heimat, lebt dort einige Jahre als ein Fremdgewordener, kehrt schließlich nach New York zurück, um festzustellen, dass er auch dort zum Fremden geworden ist. Zwei Jahre später stirbt er im Alter von 31 Jahren an der Spanischen Grippe.

Mit Projektionen, vier Tonabspielgeräten und einer Kamera erschaffen die Schauspieler Eis-landschaften und Hochhaus-schluchten, brechen die menschliche Wahrnehmung auf das Wesentlichste herunter: Lärm gegen Stille, Weite gegen Enge. Mit einer Handkamera wird die Untersuchung der Inuits gefilmt, der Zuschauer fühlt sich unwohl, wie ein verständnisloser Voyeur wider Willen. Die Schauspieler sprechen englisch und ihre Heimatsprache grönländisch, die Sprachen verschwimmen und entlarven gleichzeitig ihrer Sinnlosigkeit in Bezug auf wirkliches Verständnis. Verstehen beruht eben in erster Linie auf Verstehenwollen und nicht Verstehenkönnen.

Das Schauspiel ist ein bisschen wie die Landschaft Grönlands: von den Gesten her weit und ausladend; ausdrucksstark. Die Gesichter zu Fratzen verzogen, springen die vier wie Naturgeister über die Bühne. Dabei bleiben sie dennoch stets etwas unterkühlt.

Auch wenn keiner der Zuschauer im voll besetzten Studio die Beweggründe der damaligen "Bildungselite" nachvollziehen kann, so werden doch Parallelen zur Gegenwart deutlich.
Minik ist ein Sehnsüchtiger, ein Heimatloser, ein Getriebener und Vertriebener auf der Suche nach seinem Platz im Leben. Er befindet sich auf der Schwelle zum modernen Leben voller Zwänge und Oberflächlichkeiten, aber auch voller Entwicklungschancen. In dieser Welt möchte er das Wissen weitergeben, welches er in der anderen gesammelt hat, aber in beiden Welten stößt er auf Desinteresse. Minik wird zum Symbol für Entwicklung schlechthin. Sein Schicksal zum mahnenden Verlangen nach Respekt und Menschlichkeit. Weitere Vorführung: heute, Samstag, 19.30 Uhr.

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