"Ich weiß, dass das geht"

TRIER. Mit dem Start der Spielzeit 2005/2006 wird Sven Grützmacher der neue Kopf des Trierer Theaterballets. Der von ihm gewählte Company-Name "Tanz Theater Trier" ist durchaus programmatisch gemeint.

"Haben Sie bei Ihrer Zeitung nicht noch eine alte Druckhalle frei?" Sven Grützmacher kämpft mit den Tücken des Objekts. Das Objekt ist in diesem Fall der winzige Ballettsaal unterm Theaterdach, wo er für die erste Premiere probt. Mit dem welligen Boden und den bröckeligen Spiegeln ließe sich noch leben, aber die kleine Fläche hemmt unübersehbar den Bewegungsdrang der Tänzer. So ähnlich muss es sein, wenn man mit einer Fußballmannschaft die großen Spielzüge trainieren will und nur ein Basketball-Feld zur Verfügung hat. Aber Grützmacher jammert nicht, im Gegenteil: Der neue Job macht ihm sichtlich Spaß. Jahrelang war er erfolgreicher Tänzer, aber die Chance, ein eigenes Ensemble aufzubauen, bedeutet Neuland. Es sei schön, "Dinge verändern und gestalten zu können". Das sei für ihn "keine Arbeit, sondern ein Stück Lebensphilosophie", schon weil es sonst "unmöglich" sei, "die Company mitzureißen". Letzteres hat er vor mit seinem neuen "Tanz Theater Trier". Auf eine bestimmte Ästhetik will er sich nicht festlegen lassen. "Der Inhalt bestimmt die Form" lautet einer der programmatischen Sätze, die er sich - vorsichtig, um niemanden vor den Kopf zu stoßen - entlocken lässt. Der bittere Beigeschmack zum Ende der Ära Volobuyev wirkt noch nach. Immerhin, so viel wird deutlich: Das klassische Ballett hält er für eine "ideale Grundlage", zu der aber für sein Tanztheater "neue Formen hinzukommen". Sein Stil und seine Arbeitsweise lassen sich in den Proben erahnen. Die Rahmenhandlung steht, aber die Bewegungen entstehen während der Arbeit mit den Tänzern. Deren Kreativität ist ebenso gefragt wie die des Choreographen. "Und wie geht's jetzt weiter?", fragt Tänzerin Tina Goldin. "Tinchen, das weiß ich doch auch noch nicht", gibt Grützmacher zurück. Und dann wird gemeinsam gefeilt und gebastelt. Beinharte, für den Betrachter fast schmerzhafte Körperarbeit. Mancher in der Truppe aus fünf Neulingen und acht Trier-Erfahrenen muss sich auf Veränderungen einstellen. Auch auf ein "moderneres" Bewegungsrepertoire. "Ich weiß, dass das geht", antwortet Sven Grützmacher auf manch skeptischen Blick. Er weiß es in der Tat. Klassisch ausgebildet an der Ballettschule in (Ost-)Berlin, nach Westen ausgewandert zu einer Zeit, als das noch "Republikflucht" hieß, langjähriger gefeierter Solist bei Birgit Scherzer in Saarbrücken, Hochschullehrer, Choreograph, Regisseur, Aufnahmeleiter und Autor bei Film und Fernsehen: Dem 39-Jährigen mit dem blonden, zum Zopf gebändigten Langhaar wird so schnell keiner etwas vormachen. Risikoscheu ist Grützmacher nicht. Ende der 90er Jahre stieg er aus dem Künstlerleben aus und leitete zwei Jahre lang ein Sozialprojekt in Sierra Leone - bis ihn der Bürgerkrieg vertrieb. Sein Comeback als Tänzer feierte er nach sieben (!) Jahren Pause als Einspringer beim Trierer "Requiem", in einer mörderisch anstrengenden Hauptrolle. Rückblickend erschrickt er über seine Unvernunft: "Ich hätte einfach umfallen können und alles wäre vorbei gewesen". Sein Debüt als Chef in Trier gibt er mit einem Tanzstück über den legendären Chansonnier Jaques Brel. Der Stoff sei "nicht so überfrachtet", sagt er, und die Musik spreche "viele Menschen an". Aber vielleicht ist es auch ein Stück Seelenverwandtschaft mit dem eigenwilligen, immer auf der Suche nach neuen Ufern befindlichen Belgier. Im Frühjahr wagt er sich dann an den Mythos "Judas". Das nächste Risiko. "In diesem Thema liegt richtig Sprengstoff", sagt Sven Grützmacher. Dann steckt er sich eine weitere selbstgedrehte Golden-Virginia an. Wenn sein Tanz-Theater so viel Profil und Identität entwickelt wie der Chef, braucht er vor der Konkurrenz aus Luxemburg keine Angst zu haben.

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