Immer neue weiße Blätter

TRIER. Er kam, sah und zauberte eine idyllische Stimmung in die abendlichen Kaiserthermen: Andreas Vollenweider, der Magier an der Harfe, fand den Draht zum Trierer Publikum.

Er habe sich "das Hirn zermartert", bekundet der Mann mit dem markanten Lockenkopf bei einer seiner unterhaltsamen Ansagen, aber er könne sich "beim besten Willen" nicht mehr erinnern, wann er jemals "in dieser Gegend" aufgetreten sei. Es ist auch wirklich schon lange her. 1983 fungierte Vollenweider als Headliner beim Open Air in St. Wendel, gemeinsam mit - wer hätte es gedacht - Nina Hagen. Da stand ein schlaksiger junger Mann mit Löwenmähne auf der Bühne, den Kopf meist an die Harfe gelehnt, immer einen schelmischen Blick fürs Publikum übrig. Schlaksig ist er nicht mehr, eher Typ Knuddel-Teddybär. Ein bisschen ernster klingt der 52-Jährige, der "unkurierbare Weltverbesserer", wie er sich, nur halb zum Spaß, nennt. Aber seine Musik fesselt wie eh und je. Ob viele von den 450, die an diesem Abend den Weg in die Thermen gefunden haben, vor 22 Jahren schon dabei waren? Vom Alter her könnte es hinkommen, man ist meist zwischen 40 und 50, dankbar dafür, dass bestuhlt ist, eher zum Mitwippen als zum Mittanzen aufgelegt. Bei vielen steht vielleicht noch die alte "Behind the gardens"-LP daheim, gleich neben den Gesängen der Buckelwale. Einst war sie unentbehrlich in jeder Studentenbude, als Untermalung trauter Zweisamkeit oder als poetischer Soundtrack für das Schmieden traumhafter Zukunftspläne. Nach Sekunden breitet sich Wohlbefinden aus

Das Abheben funktioniert immer noch. Nur ein paar Sekunden der Einstimmung, und in den Thermen breitet sich Wohlbefinden aus. Balsam für die Seele, dem sich selbst der rationalste Beobachter nicht entziehen kann. Das hat mit der Bruchlosigkeit und der Harmonie von Vollenweiders Musik zu tun. Nicht die Harmonie der Einfalt wie bei Pop- oder Volksmusik - mit Dissonanzen wird nicht gegeizt. Aber Vollenweiders Klänge bauen sich aus einfachsten Elementen auf und ziehen den Hörer magisch in sich hinein. Bei einem Stück beginnen die vier Musiker auf der Bühne mit dem Klopfen von Steinen. Aus vier Rhythmen entsteht einer, zu dem Stein-Rhythmus kommt erst ein Summen hinzu, dann sanfte Percussion, dann die Harfe, schließlich ein Saxophon. Nach fünf Minuten klingt es wie eine ganze Jazz-Bigband, aber kein Mensch hat einen Break gehört. Die ganze Entwicklung vom Klopfen bis zur Bigband ist eine einzigartige organische Bewegung. Das klingt kompliziert, aber man muss Vollenweider nicht sezieren, um ihn zu genießen. Manchmal ist es einfach nur schön, zum Beispiel, wenn er auf der chinesischen Gu-Cheng ein Lied spielt, das in Andenken an seinen gestorbenen Vater entstand, einen der führenden Organisten Europas. Oder wenn er ein "weißes Blatt" aufschlägt, wie er es nennt, wenn er improvisiert. Und trotzdem: Seine Kompositionen liefen Gefahr, zur Wellness-Musik zu werden, zum Easy Listening für gehobene Kreise - wäre da nicht die phänomenale Rhythmus-Sektion. Die Bühne vibriert, wenn Walter Keiser (Schlagzeug) und Andi Pupato (Percussion) grooven. Nicht wegen der Phonstärke, die ist gar nicht nötig, sondern wegen des differenzierten, filigranen und trotzdem kraftvollen Schlagwerks, das sie auffahren. Und Multi-Instrumentalist Daniel Küffer sorgt mit Saxophonen, Klarinetten, Keyboard oder Akkordeon für die klanglichen und atmosphärischen Akzente, die verhindern, dass der Harfen-dominierte Sound jemals langweilig wird.Alte Stücke in neuen Versionen

Die Musik lebt in jeder Sekunde, lässt keinen Platz für rein nostalgische Gefühle. "Wir spielen alte Sachen, aber nicht so, wie ihr sie kennt, das wäre ja langweilig." Sagt Vollenweider und schiebt eine atemberaubende Version von "Micro-Macro" hinterher, die fast nach Flamenco klingt. Dass er bei manchen Titeln singt, wirkt nicht aufgesetzt oder störend, im Gegenteil. Die Stimme wird ein Instrument von vielen, schafft weitere Ausdrucksmöglichkeiten. Langer, von Sympathie geprägter Beifall am Ende. "Wir sind dankbar, dass wir Musik machen dürfen", heißt es von der Bühne, und es klingt ehrlich. Gibt es Musik, die heilen kann? Keine Ahnung, sollen sich die Wissenschaftler drum streiten. Aber wenn es eine gibt, klingt sie garantiert so ähnlich wie "Vollenweider and Friends".

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Vom erwischt werden
Vinyl der Woche: Love Is A Wonderful Thing – Michael Bolton Vom erwischt werden
Aus dem Ressort