In der Stadt Gottes regiert die Gewalt

KÖLN. Der Film "City of God" des Brasilianers Fernando Meirelles, der das Leben und Sterben zumeist jugendlicher Drogenhändler dokumentiert, wird derzeit weltweit von der Kritik gefeiert.

Senhor Meirelles, welche Motivation hat Sie dazu getrieben,ein sicheres und angenehmes Leben hinter sich zu lassen, umdiesen Film zu realisieren? Meirelles: Als ich dieses Buch in die Hände bekam, hat mich die Story außerordentlich verblüfft. Ich lebte schon immer in Brasilien, 46 Jahre lang. Durch mein Fenster konnte ich die Favelas sehen. Natürlich gibt es in den Zeitungen oder im Fernsehen Berichte darüber, aber was dort wirklich geschieht, weiß man nicht. Das Buch offenbart einen ganz anderen Blick auf diese Orte. Ich entschloss mich, diesen Film zu machen, um der Gesellschaft zu zeigen, was sich in den Slums abgespielt hat.

Warum konnten Sie nicht in der wirklichen "City of God" drehen?

Meirelles: Bevor wir mit den Dreharbeiten zum Spielfilm begannen, machten wir zur Probe den Kurzfilm "Golden Gate", der vor zwei Jahren auf der Berlinale einen Preis gewann. Wir haben mit diesem Film die Schauspieler, die Technik und auch den Drehort getestet. Es gab jeden Tag Probleme mit den Drogenhändlern in der "City of God". Sie sind oft sehr jung und wankelmütig. An einem Tag wurde uns erlaubt, an einem bestimmten Ort zu drehen. Am nächsten Tag schon durften wir es nicht mehr. Wir mussten ständig die Plätze wechseln. Wir durften die Kamera nicht auf diese oder jene Seite richten. Es war unmöglich, die Dreharbeiten zum Spielfilm von ein paar Teenagern abhängig zu machen. Deshalb beschlossen wir, anderswo zu drehen.

Auch dort mussten Sie mit den lokalen Drogenbossen zusammenarbeiten. Wie muss man sich diese Kooperation vorstellen?

Meirelles: Es war keine echte Zusammenarbeit. Wir mussten uns nur Genehmigungen einholen, um drehen zu dürfen. Wir arbeiteten auf ihrem Territorium, und natürlich hätten wir ihre Geschäfte stören können. Wir suchten einige Drehorte aus, die für uns in Frage kamen. Dann besuchten wir deren Bürgerzentren, um eine Art Geschäft auszuhandeln. Wir entschieden uns letztendlich für ein Viertel, das "High City" genannt wird. Dort war man sehr froh, ein Drehteam vor Ort zu haben, welches Leute aus ihrer Mitte beschäftigt. Wir fanden dort Hilfsarbeiter und Handwerker und wurden sehr gut aufgenommen. Der Boss des Viertels saß im Gefängnis. Er war auch schon etwas älter und reifer, deshalb verlief alles reibungslos.

In Ihrem Film gibt es naturgemäß sehr viel Gewalt. Aber die Gewalt wird nie als "cool" dargestellt. War es schwierig, nicht der Faszination der Waffen zu erliegen?

Meirelles: Ich habe es vermieden, Gewalt zu zeigen, wo ich nur konnte. Ich habe eine Vergewaltigungsszene, in der man keine Vergewaltigung sieht. In diesem schrecklichen Augenblick, wenn der kleine Junge gezwungen wird, einen anderen kleinen Jungen zu töten, sieht man ebenfalls nichts, man hört es nur. Würde in einem Hollywood-Film der Bandenkrieg dargestellt, dann würden die Leichen gegen die Kamera fallen und überall wäre Blut. Ich zeige es in der Nacht, und von einem weit entfernten Punkt aus. Eine Stimme aus dem Hintergrund erklärt, was sich abspielt. Mein Film dreht sich um Gewalt, aber vieles spielt sich nicht auf der Leinwand ab, sondern im Kopf des Zuschauers.

Einige Kritiker vergleichen Sie nun mit Martin Scorsese. Betrachten Sie das als Kompliment?

Meirelles: Das gefällt mir natürlich, aber es ist zu viel der Ehre. Man verglich den Film zum Beispiel mit "GoodFellas". Im Buch - nicht in der Art, wie ich den Film gemacht habe - kann man tatsächlich Parallelen erkennen. Beide Filme beschäftigen sich mit der Mafia, und das über einen Zeitraum von etwa 15 Jahren. In beiden Filmen erzählt jemand eine Geschichte, ohne deren eigentlicher Mittelpunkt zu sein. Das sind Zufälle, und natürlich sind die Filme in ihrem Aussehen grundverschieden. Der Vergleich schmeichelt mir trotzdem.

Glauben Sie, ein Film kann etwas in den Köpfen der Menschen bewirken?

Meirelles: Hätten Sie mich das vor einem Jahr gefragt, hätte ich Nein gesagt. Ich wusste, dass ein Film provozieren und Debatten auslösen kann. Aber dass er auch tatsächliche Veränderungen bringen wird, hätte ich nie erwartet. Natürlich ist längst nicht alles, wie es sein sollte. Aber wir sind auf einem guten Weg.

War es schwer, nach Beendigung der Dreharbeiten von Ihren jungen Amateurdarstellern Abschied zu nehmen und sie ihrem Schicksal zu überlassen?

Meirelles: Das habe ich gar nicht getan. Vor Beginn der Dreharbeiten haben wir eine Schauspielschule eingerichtet, in der wir unsere Amateurdarsteller sechs Monate lang trainiert haben. Nach Beendigung der Arbeiten haben wir diese Schule wiederbelebt. Dort treffen sich die Jungs an jedem Wochenende. Sie haben schon zwei Kurzfilme ganz allein gemacht: Sie schreiben, drehen, schneiden. Momentan drehen sie eine Dokumentation. Im vorigen Jahr haben wir vier Episoden einer Serie fürs Fernsehen produziert, in diesem Jahr sollen weitere vier folgen. Der größte Sender Brasiliens strahlt sie aus. Einer unserer jungen Darsteller hat jetzt eine Wohnung in Paris und steht für Gucci auf dem Laufsteg.

Die Fragen stellte unser Mitarbeiter André Wesche.

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