Innenwelten auf die Bühne bringen

TRIER. Das Trierer Theater startet musikalisch in die Saison 2003/04 mit einem spektakulären Sinfoniekonzert und Beethovens Oper "Fidelio". Beide Produktionen rücken eine Sängerin in den Mittelpunkt, die in den letzten Jahren auf sich aufmerksam gemacht hat: die Sopranistin Vera Wenkert.

Langsam öffnet sich die Gefängnistür. Leonore betritt gemeinsam mit Kerkermeister Rocco ein unterirdisches Verlies, in dem ein Häftling haust. Im Dunkeln kann sie nicht erkennen, ob es sich um Florestan, ihren verzweifelt gesuchten Ehemann, handelt. Die Szene dauert in Echtzeit 30 Sekunden. Es wird nicht gesungen, man bewegt sich ein paar Schritte, die Musik begleitet leise eine Handvoll gesprochener Texte. Und doch feilt Regisseur Uwe Wand schon seit mehr als einer Stunde an jeder Regung, jeder Geste, jedem Takt. "Du musst den Zuschauer die Kälte hier unten spüren lassen", beschwört er seine Hauptdarstellerin Vera Wenkert. Gute Theaterproben haben bisweilen etwas von Steißgeburten. Es geht nur millimeterweise voran, jeder Fortschritt muss schmerzhaft erkämpft werden, und ständig sind Korrekturen notwendig, um eine Schieflage zu verhindern. Viele Sänger nehmen die Proben als notwendiges Übel, um letztlich auf der Bühne doch zu machen, was ihnen passt. Vera Wenkert, seit drei Jahren am Theater Trier für die dramatischen Sopran-Partien zuständig, gehört nicht zu dieser Kategorie. Im Gegenteil: Die studierte Literaturwissenschaftlerin und Magi-sterin der Philosophie pflegt sich mit bemerkenswerter Akribie auf ihre Figuren zu stürzen. Ihre Erfahrung: "Um die Rolle leben zu können, braucht man Entwicklungszeit." Bei Fidelio sind das inzwischen immerhin fünf Monate. Irgendwann im Frühjahr hörte sie gerüchteweise von der Überlegung des Intendanten, den Beethoven-Klassiker auf den Spielplan zu setzen. Ein paar Wochen Zittern, bis die "Traumrolle" (Wenkert) bestätigt wurde. Und dann begannen im Mai die musikalischen Proben. Da hatte Vera Wenkert schon Bücher gewälzt, CD's angehört, mit Freunden und Lehrern gesprochen. Über ihrem heimischen Arbeitstisch hängen zwei plakatgroße Notizzettel, in denen sie die einzelnen Rollen, ihre Beziehungen zueinander, den historischen Kontext des Stücks und ihre eigenen Einschätzungen detailliert festgehalten hat. Eine Art wissenschaftliche Vorarbeit, die ihr später eine totale emotionale Aneignung der Rolle ermöglicht. Nicht immer trifft sie auf Dirigenten und Regisseure, die solcherlei Engagement zu würdigen wissen. Und dass die Kollegen sie "manchmal für ein bisschen verrückt halten", ist ihr nicht entgangen. Aber es gehe darum, "dem Komponisten nahe zu kommen", den "Gehalt des Wortes" glaubwürdig zu treffen. Im Übrigen sei sie halt "kein charming-darling-Typ". Beim Trierer Fidelio hat sie das Glück, mit Dirigent István Dénes und Regisseur Uwe Wand Mitstreiter zu finden, die auf der gleichen Wellenlänge liegen. Wand hat die Regie-Arbeit erst vor wenigen Tagen von einem erkrankten Kollegen übernommen - beim vielschichtigen und anspruchsvollen Fidelio eine Art Himmelfahrtskommando, zumal das Bühnenbild noch nach dem alten Konzept entstand. Da tut es gut, mit Sängern zu arbeiten, die sich über das Stück Gedanken machen. Zehnmal, zwanzigmal lässt Uwe Wand einen einzigen, gesprochenen (!) Satz wiederholen, bis Vera Wenkert ihn so rüberbringt, dass Regisseur und Darstellerin zufrieden sind. Später, beim Durchlauf, setzt sie alle Vorgaben penibel um. Ob sie sich selbst als pedantisch einstuft? "Das muss ich sein", sagt sie nach kurzem Zögern auf die entsprechende Frage, "sonst wäre ich nicht ehrlich." "Einfach nur schön singen", das gehört nicht zu den Dingen, die sie reizen. Dabei gebietet die Mittdreißigerin über eine mächtige Sopranstimme, die mühelos dramatische Durchschlagskraft entfaltet, aber auch über anrührende Farben verfügt. Ein kleines Haus wie Trier bietet allerdings nicht immer die großen Partien für ihr Stimmfach. Es sei "manchmal nicht einfach gewesen", resümiert sie ihre Trierer Zeit. Im Moment könnte es aber kaum besser laufen: Bei der Eröffnung der "Arena" wurde sie gefeiert, mit "Fidelio" und "Tosca" kann sie in dieser Spielzeit Traumrollen übernehmen, und mit dem Orchester zelebriert sie zum Saison-Start Isoldes "Liebestod". Viele gute Gelegenheiten, das zu tun, was sie als ihre Berufung bezeichnet: "Innenwelten auf die Bühne bringen."

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